Zappler werden ruhig gestellt – Psychopille gegen Hyperaktivität

Psychopille gegen Hyperaktivität

Raoul Wüthrich ist eines von sechs Millionen Ritalin-Kindern in den USA. Die Psychopille gegen Hyperaktivität boomt auch bei uns.

Sie zappeln, scharren, rennen, rempeln, sind laut, unflätig, unaufmerksam, ständig unter Strom – und nerven gewaltig. Eltern wie Lehrer tun sich schwer mit hyperaktiven Kindern, die Ärzte handeln. ADS, Aufmerksamkeitsdefizitstörung, lautet die Diagnose, und dagegen gibt es ein Mittel: Ritalin. «Es gibt Kinderärzte, die plötzlich Dutzende Patienten haben, denen sie Ritalin verschreiben», wundert sich Hans- Christoph Steinhausen. Der Kinder- und Jugendpsychiater hat grosse Erfahrung mit hyperaktiven Kindern und ist in der Schweiz der führende Forscher auf diesem Gebiet. Der Absatz von Ritalin hat sich bei uns in den letzten fünf Jahren verdoppelt, und Novartis lanciert diesen Herbst eine Weiterentwicklung des Produktes, Ritalin SR. Der grösste Markt für das Stimulans sind die USA: Dort werden 90 Prozent der gesamten Ritalin-Produktion abgesetzt. Wurden 1988 noch zwei Tonnen Tabletten verschrieben, waren es 1997 unglaubliche 14 Tonnen. Auch der elfjährige Raoul Wüthrich, der in Colorado auf seinen Prozess wegen «schweren Inzests» wartet, ist eines der sechs Millionen US-Schulkinder, das mit Ritalin versorgt wird.

«Europa sollte ganz genau hinsehen, was bei uns geschieht, und die USA als warnendes Beispiel nehmen», sagt der Kinderarzt und Familientherapeut Lawrence Diller, der zu den engagiertesten Ritalin-Kritikern in den USA zählt. Er hält das Verabreichen von Ritalin in Einzelfällen für sinnvoll, nicht aber, dass eine Gesellschaft ihre Kinder flächendeckend mit Psychopharmaka in die gewünschte Form bringt. Seine grösste Sorge ist, wie sein Land mit verhaltensauffälligen Kindern umgeht: «Es fällt uns so viel leichter, bei einem Kind eine Störung festzustellen und ihm Tabletten zu geben, als auf seine Bedürfnisse einzugehen», und fügt hinzu: «Wenn Huckleberry Finn und Tom Sawyer heute mit ihren Eltern einen Kinderarzt aufsuchten, stünden die Chancen gut, dass mindestens einer, wenn nicht beide Ritalin verschrieben bekämen.»

Dass die kleinen, weissen Tabletten wirken, ist unbestritten. Sie stimulieren die Kontrollfunktion im Gehirn, so dass das Kind sein Verhalten besser steuern kann. Die motorische Unruhe lässt nach, es wird aufmerksamer. Die Wirkung von Ritalin auf ein hyperaktives Kind ist eindrücklich: Innerhalb von zwei Stunden wird aus dem Zappelphilipp ein ruhiger, konzentrierter Schüler. Ein Lehrer mit einem Ritalin-Kind in der Klasse merkt sofort, wenn es vergessen hat, die Pille einzunehmen.
«Ritalin ist ein Segen, wenn ein richtig diagnostiziertes Kind das Medikament erhält, und es ist ein ärztlicher Kunstfehler, es ihm vorzuenthalten», sagt der Kinderpsychiater Hans-Christoph Steinhausen. Er wirft jedoch den Kinderärzten vor, dass sie es zu oft und zu leichtfertig verschreiben und damit den Ritalin-Boom weiter vorantreiben: «Die neuerdings immer häufigere Diagnose ADS, Aufmerksamkeitsdefizitstörung, wird ohne genügend Fachkenntnisse gestellt.» ADS, so die Kritik, ist keine schlüssige Diagnose, sondern ein weit verbreitetes Symptom ganz unterschiedlicher Krankheiten. Das Verschreiben von Ritalin aber ist einzig bei der Diagnose Hyperkinesie zu rechtfertigen.

Bei dieser Krankheit leidet ein Kind an schwersten Aufmerksamkeitsstörungen, Hyperaktivität und Impulsivität.

Man vermutet, dass diese Kinder auf Grund einer verzögerten Reifung des Gehirns ihre Umwelt nur wenig differenziert wahrnehmen. Das Gehirn «langweilt» sich und kompensiert die fehlenden Impulse von aussen durch Selbstreizung. Dies führt zu gesteigerter Aktivität, die das Kind kaum kontrollieren kann. Da Ritalin die Grundaktivität des Gehirns erhöht, beruhigt sich das Kind.
«Es gibt allerdings sehr viele Kinder, deren Gehirn von sich aus genügend aktiv ist, die aber – aus ganz unterschiedlichen Gründen – keine Möglichkeiten haben, diese Aktivität produktiv umzusetzen. Deshalb schiesst sie ungezielt aus dem Kind heraus», erklärt der Psychologe Etienne Perret, der am Neuropsychologischen Institut in Zürich arbeitet.

«Erhöht man bei diesen Kindern das Aktivitätsniveau mit Ritalin zusätzlich, können sie ausflippen.» Immerhin ist Ritalin ein Amphetamin-ähnliches Aufputschmittel, das unter das Betäubungsmittelgesetz fällt. Ein mit Ritalin «gedoptes» Kind kann schizophrene Störungen und Halluzinationen entwickeln.

Etienne Perret schätzt, dass Ritalin höchstens bei jedem zweiten behandelten Kind richtig eingesetzt ist: «Viel zu häufig ist es ein Ausweichen auf die einfachste Lösung.» Er beobachtet, dass Schulpsychologen und Kinderärzte vermehrt auf Ritalin drängen, und kritisiert diesen Trend als reine Symptombekämpfung. Damit folgt die Schweiz dem Trend in den USA. Dort wird viel unbedarfter zu Medikamenten gegriffen und der Druck, sich an die Mainstream-Gesellschaft anzupassen, ist bereits für Kinder enorm gross. In amerikanischen Schulen beginnt der Selektionsdruck bereits in der ersten Primarklasse. Doch auch bei uns sorgen sich immer mehr Eltern um Kinder, die vielleicht wie Raoul verhaltensauffällig sind, sich nicht gut einordnen können und den Unterricht stören.

In Zürich betreut der Schulpsychologische Dienst der Stadt Zürich jedes Jahr zehn Prozent mehr Kinder, die von besorgten Eltern zur Abklärung gebracht werden. Von den 2871 im letzten Jahr betreuten Schülern wurde ein Drittel auf ADS untersucht. Die Zunahme dieser Diagnose lässt sich so auch mit einer zunehmenden Sensibilisierung für auffälliges Verhalten erklären und der sinkenden Bereitschaft der Eltern, ein schwieriges Kind zu akzeptieren. Gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten soll es mit optimalen Voraussetzungen ins Berufsleben starten, und dazu gehört eine reibungslose Schulkarriere.

Nicht nur in der Schule bereiten die Hyperaktiven Probleme, oft erreichen auch die Eltern die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Der Neuropsychologe Etienne Perret, der seit Jahrzehnten hyperaktive Kinder und deren Eltern betreut, stellt fest: «Ich glaube, beim Verschreiben von Ritalin ist häufig der Leidensdruck der Umgebung entscheidend.» Das Kind fühlt sich anders und unverstanden, aber es leidet nicht zwangsläufig. Perret beobachtet, dass die Kinder selbst oft einen Weg finden, sich mit ihrem Anderssein zu arrangieren. Auch wenn für ihn Ritalin nur in seltenen Fällen die richtige Lösung ist, sieht er auch die Seite der Eltern, die das Kind manchmal kaum ertragen: «Meist genügen einige Gespräche, um zu zeigen, mit welchen Tricks ihrem Kind beizukommen ist.» Falls nicht, kann ein Ritalin-Rezept tatsächlich sinnvoll sein. Wenn ein hyperaktives Kind so erschöpfend ist, müssen Eltern Möglichkeiten haben, sich zu erholen: «Sonst besteht die Gefahr, dass auch die Eltern ausrasten, und dann stecken Eltern und Kind in einem Teufelskreis.» Im Gegensatz zur Schweiz stagniert der Ritalin-Absatz in den USA. Doch der Psychopharmaka-Boom bei US-Kindern ist nicht vorbei: Ritalin wird von Adderall abgelöst, einem Amphetamin mit höherem Suchtpotenzial als Ritalin.

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