Mobilisierung der Jugend
Zweimal piepst das Handy im Zugabteil. Ein SMS, eine Kurznachricht, ist angekommen! «Meins oder deins?», fragt ein Mädchen das andere. Weder noch, stellt sich heraus. Es ist der Apparat des Secondo-Hip-Hoppers nebenan. Was die beiden Mädchen ihrerseits animiert, ein paar Freundinnen und Freunde mit einer Kurzmessage zu beglücken.
Kurznachrichten per Handy – bei Erwachsenen immer beliebter, bei den Jungen Kult. Wer beim grossen Palaver der Kids dabei sein will, hat das kleine Ding rund um die Uhr griffbereit; es gehört zum obligatorischen Outfit in der Szene.
Die SMS-Kurznachricht ist die populärste Einsatzmöglichkeit des Handys. Schnell, nützlich, trendy. «7 Uhr Oase», «10 Uhr X-tra» – schon ist klar, was der Absender dem Empfänger mitteilen will: Wir treffen uns im In-Lokal.
Früher war das Vereinbaren eines Rendezvous eine mitunter aufwändige Verhandlungssache, beinahe so aufregend wie das Treffen selbst. Wo, wann und wozu, das wurde während Generationen zwischen den Geschlechtern ausgiebig debattiert. Heute verabredet man das Date per SMS; eine allfällige Absage ist per Tastendruck sofort gelöscht.
Rund eine Million Short Messages wird allein über das Swisscom-Netz verbreitet – täglich. «Die allermeisten davon gehen von Handy zu Handy», sagt Swisscom-Sprecher Sepp Huber. Rechnet man das Handy-Geschäft der Konkurrenz dazu, werden es insgesamt 1,2 Millionen SMS sein. Die Telefongesellschaften machen damit einen Tagesumsatz von schätzungsweise 360 000 Franken.
Die Info-Quickies sind eine Goldgrube für die Mobilfunk-Anbieter Swisscom, Diax und Orange. Und sie haben Zukunft: Die eifrigsten Kunden sind die Jungen, für die das Handy Lifestyle, Prestige und Kommunikationslust bedeutet.
Knapp drei Millionen Menschen besitzen in der Schweiz bereits ein Handy, 45 Prozent der Bevölkerung. Allein dieses Jahr wird der Handel 1,5 Millionen neue Mobiltelefone verkaufen. Im Schnitt kaufen sich Schweizerinnen und Schweizer alle 18 Monate ein neues Gerät.
Die Jugendlichen nutzen das Handy nicht nur für kurze Nachrichten, auch lange Gespräche sind angesagt. Allzeit und überall bereit zum Quatschen, Quasseln, Tratschen – koste es, was es wolle. Und es kostet nicht wenig. Ein Gespräch per Handy ist im Schnitt über viermal teurer als eines mit einem Festtelefon. Ein zehnminütiger Natel-Easy-Talk kostet fast zehn Franken. Wer sich nicht vorsieht, sieht alt aus, wenn die Rechnung kommt.
Besonders schnell geht vergessen, dass auch die kürzeste Kurznachricht ihren Preis hat, nämlich 30 Rappen. 10-mal sind keinmal, mag als Devise gelten. 100-mal sind bei einem Lehrlingslohn schon spürbar, 500-mal bedeuten Schulden.
«SMS sind genial», sagt die 14-jährige Schülerin Jasmine aus Basel. «Aber sie können extrem ins Geld gehen.» Jasmine bekam ihr Handy letzte Weihnachten geschenkt. Ihre Mutter war froh, dass sich die Tochter etwas scheinbar Vernünftiges wünschte, würde sie doch fortan zu Hause anrufen, wenns abends wieder mal später wird. Das war der Mutter ein 75-Minuten-Abo von Diax wert, wobei die Hälfte der monatlichen Kosten von 40 Franken Jasmine vom Taschengeld abgezogen wurden. Mit den 75 Minuten Gesprächs-Guthaben kam Jasmine klar, zumal sie im Rahmen eines Sonderangebots für die ersten Monate verdoppelt wurden. Dennoch gab es Ende Januar eine böse Überraschung: Statt 40 Franken standen 240 Franken auf der Rechnung – fast alles SMS. «Ich hatte keine Ahnung, dass diese im Abo nicht inbegriffen sind», sagt Jasmine. Gegen 500 Meldungen hatte sie im Januar verschickt.
Die meisten SMS gingen an ihre Freundin. Oft meldete sie sich nur mit einem «Hallo, wie gehts?», manchmal kam es zu längeren Diskussionen. «Wir haben eine eigene Kurzsprache entwickelt, weil das Tippen mit dem Handy so mühsam ist», sagt Jasmine. «2 Egli?» ist die Frage, ob die Freundin um 14 Uhr auf die Basler Eisbahn Eglisee kommt. «Sommer neu 10», sagt ihrem Freund, wenn sie sich fürs Treffen im Jugendhaus «Sommerkasino» um eine Stunde verspätet.
Per SMS wird gechattet und geflirtet, was das Zeug hält. So gross ist die Zahl der SMS-Fans, dass der Gerätehersteller Ericsson ein Chat-Board entwickelt hat, eine Tastatur, die sich ans Handy anschliessen lässt. Damit ist das Tippen der Nachrichten verlockend einfach.
«Vor allem bei den Mädchen ist das Verschicken von SMS-Meldungen der absolute Renner», sagt Jolanda Sifrig, Jugendhaus-Leiterin bei der Basler Freizeitaktion BFA. «Wir haben uns früher Zettel durchgereicht, heute schickt man eine SMS-Nachricht.» Bei den Jungen sei das Handy in erster Linie ein Statussymbol: «So ein Apparat stärkt das Ego ganz enorm.»
Jugendliche bevölkern die Verkaufsflächen von Anbietern wie dem MediaMarkt in Dietlikon ZH. Und sie lassen sich nichts vormachen: «Sehr oft sind sie besser informiert als die erwachsenen Kunden», stellt Geschäftsführer Gerhard Erni fest. Nokia ist mit 38 Prozent Marktanteil die erfolgreichste Marke in der Schweiz, gefolgt von Ericsson und Motorola mit je 20 Prozent. Den Rest teilen sich Siemens, Alcatel, Bosch und weitere. Am beliebtesten ist bei den Jungen das Modell 3210 von Nokia. Wer es hat, gehört zur Clique. Und findet es hip, ein Nokianer zu sein.
Nicht nur das Handy-Modell gehört zum Lifestyle, auch die Wahl des Mobilfunkers zählt. Sei es aus Image-Gründen, sei es wegen der günstigeren Preise, Diax und Orange geniessen bei vielen Kids ein höheres Ansehen als die Swisscom.
Der Jugendkult Handy ist derart verbreitet, dass er sogar schon Gegenreaktionen aus der Erwachsenenwelt provoziert.
An den Zürcher Schulen zum Beispiel nahm die Mobiltelefoniererei derart krasse Formen an, dass Schulvorsteherin Monika Weber ein generelles Verbot verhängte. Die Piepserei störte den Unterricht ganzer Schulklassen und brachte entnervte Lehrerinnen und Lehrer aus dem Konzept. Epidemische Formen nahm die Spickerei via SMS an. Fehlte eine Französisch-Vokabel oder die Mathematik-Formel im Hirn, wurde sie beim Kollegen ausserhalb übers Handy angefragt.
Nun soll das Handy-Verbot rigoros durchgesetzt werden. Bei Zuwiderhandlung droht Abschreiben der Hausordnung. Moderne Kommunikation hin oder her – die Sanktionen sind dieselben wie zu Pestalozzis Zeiten. Allerdings gibts Ausnahmen vom Verbot: Erwartet ein Schüler auf Lehrstellensuche den Anruf eines potenziellen Arbeitgebers, darf das Handy ausnahmsweise in Betrieb bleiben.
Nicht überall geht man gegen den Handy-Kult so zwinglianisch vor wie in Zürich. «Sorgen machen uns die Drogen und Waffen, die manche Schüler in der Tasche haben. Sicher nicht die Handys», sagt Pierre Felder vom Ressort Schulen des Basler Erziehungs-Departements. Dass Telefonieren im Unterricht störe, verstehe sich von selbst. «Es ist Sache des Lehrers, für Ruhe zu sorgen.» Die Hausordnung der Schule biete dafür ausreichend Handhabe. Laut Felder hat an den Gymnasien fast jeder und jede ein Handy, «aber zu Konfiskationen kommt es praktisch nie».
Die Lust am Handy ist allgegenwärtig. In Gruppen hängen Jugendliche vor dem Schaufenster des Basler Telefonshops Mobile Zone und begutachten die neusten Modelle. «Ohne Handy geht nichts mehr», sagt Dennis. Er ist 17-jährig und immer noch «ohne». Das hat Folgen: «Du bist ständig im Erklärungsnotstand. Wenn du dir keins leisten kannst, bist du ein hoffnungslos Ewiggestriger.»
Wieder «ohne» ist der 18-jährige KV-Lehrling Nicolas. «Mir wurde der Spass schlicht zu teuer. Mein Geld ging mehr und mehr für die Telefonrechnung drauf», berichtet der passionierte Snowboarder aus dem Baselbiet.
Anders Marcel. Er war früher Swisscom-Kunde. Wegen offener Rechnungen wurde sein Anschluss gesperrt. Kurzerhand wechselte er zu Diax. «Als ich meinen Ohren-Toaster abgab, stand ich bei meinen Eltern mit mehreren hundert Franken in der Kreide.»
Den Mobilfunk-Anbietern bietet die Verantwortung der Eltern einen gewissen Schutz. Diese haften nämlich für die Kosten, welche das Mitteilungsbedürfnis ihrer Kinder unter 18 Jahren verursacht – bisweilen bis über die finanzielle Schmerzgrenze.
Nun prüfen die Mobiltelefon-Anbieter Möglichkeiten, wie sie Exzesse in den Griff bekommen können. Diax sieht vor, beim Überschreiten einer Limite, zum Beispiel von 500 Franken, einen Brief an den Kunden zu schicken. Darin würde auf die kommende hohe Rechnung hingewiesen. Orange wird möglicherweise beim Sprengen einer solchen Limite den Kunden warnen – mit einer Meldung per SMS. Die Swisscom führt bei Neukunden von Natel Private versuchsweise eine individuelle Limite ein. Ist sie zu 80 Prozent erreicht, erscheint eine erste SMS-Warnung, bei 90 Prozent eine zweite. Wird bei 100 Prozent noch immer nicht bezahlt, ist die Leitung tot.
Die Mobilfunkpreise kommen zwar unter Druck, und das Telefonieren wird dank Billigangeboten wie NetNet günstiger. Doch dies ist kein Sparpotenzial, sondern zusätzlicher Anreiz, noch mehr zu telefonieren.
«Früher machte die Telefonrechnung einen niedrigen Posten im Schuldenberg aus», sagt Gerda Haber von der Zürcher Fachstelle für Schuldenfragen. «Heute haben unsere Klienten bedeutend höhere Ausstände, nicht selten bei mehreren Telefon-Gesellschaften.» Gerade einkommensschwache Familien wüssten oft nicht, wie teuer telefonieren sein kann.
Um Überraschungen auf der Telefonrechnung zu vermeiden, empfiehlt Diax-Sprecher Reto Zurflüh Einsteigern ein Prepaid-Abo. «Das kostet zwar ein bisschen mehr, dafür zahlt man keine Grundgebühr und hat die Kosten immer unter Kontrolle.» Bei der Swisscom hat jeder dritte Kunde ein Natel-Easy-Abo, darunter überdurchschnittlich viele Jugendliche. «Die Jungen nutzen neue Technologien und Anwendungen am schnellsten», sagt Swisscom-Sprecher Huber.
Geschickt pflegen die Mobilfunk-Anbieter das Image junger Handy-Leute als Trendsetter, um möglichst viele «Early Adapters» zu gewinnen. Nicht nur, weil sie mit den Jungendlichen das grosse Geschäft machen. Die Jungen beeinflussen auch das Konsumverhalten der Familie. Fährt der Jüngste aufs Handy ab, folgen ihm die Alten fast zwangsläufig.
So wirbt Swisscom mit einer speziellen Website um die Gunst der jungen Kundinnen und Kunden. Auf www.my natel.ch wird der Internet-User mit Du angesprochen. Herzstück ist der «Natel-Flirt». Unter «Sie sucht Ihn» inseriert zum Beispiel eine Pami la Bella. «Ich bin 17 Jahre alt und komme aus Lyss. Ich bin 1 Meter 60 gross, habe braune Haare und blaue Augen. Mein Sternzeichen ist Waage. Ich mag schöne Männer (Italiener) und viel Spass. Ich hasse Machos! Ich suche einen Mann!» Der 21-jährige Aargauer Marco gibt an gleicher Stelle bekannt, dass er «schnelle Autos und kühle Drinks» mag, «langweilige Leute» hasst und «exakt dich!» sucht. Wer sich angesprochen fühlt, schickt die eigene Natel-Nummer an einen der Inserenten – Pami oder Marco werden sich zum Handy-Flirt melden.
Auch einige SMS-Info-Dienste sind auf die jungen Kunden zugeschnitten. Wer «4000 American Beauty» an die Zielnummer 123 schickt, erfährt sogleich, in welchem Basler Kino der Film läuft. Der «Night-Guide» des Szene-Magazins «Forecast» informiert über Partys und Konzerte. Keyword «X-tra» an die Zielnummer 365 schicken, und wenig später zeigt das Handy-Display, was am Abend im Zürcher «X-tra Limmathaus» läuft.
Mit dem Handy in der Hand hat man die nächste Party im Griff. Einziger Nachteil für die Kids: Im Sound-Gedröhne geht das Piepsen unter. Glücklich, wer ein Modell mit Vibrationsfunktion hat.