Net-Titel Top oder Flop?
Der Markt wird im Internetbereich bald die Spreu vom Weizen trennen. Lise Buyer, Analystin bei der Credit Suisse First Boston, empfiehlt, auf etablierte Werte zu setzen.
Lise Buyer ist in der Schweiz wenig bekannt. US-Magazine hingegen lassen kaum eine Gelegenheit aus, die Staranalystin aus den Reihen der Credit Suisse First Boston zu porträtieren. Lise Buyer studierte am Wellesley College Geologie und Ökonomie und erlangte an der Owen School of Vanderbilt University einen MBA. Sie gehörte zu den ersten Finanzanalysten, die sich ganz auf Internettitel konzentrierten. Wie Starbanker Frank Quattrone wechselte sie im Sommer 1998 von der Deutschen Bank zur Credit Suisse First Boston Technology Group. Die CSFB hat sich diesen Coup Millionen Kosten lassen und wickelt seither noch mehr Deals im Internetbereich ab.
–: Viele Anleger haben es bisher nicht gewagt, auf Internetaktien zu setzen. Ist es angesichts der hohen Kurse nun zu spät?
Lise Buyer: Das Internet ist ein absolut aussergewöhnliches Anlagefeld. Man kann denen, die nicht in diesen Bereich investiert haben, sicherlich keinen Vorwurf machen. Da man sich nicht mehr auf die klassische Analyse stützen konnte, war es nur vernünftig, auf Distanz zu gehen. Je stärker sich der Anleger mit der Bewertung der Titel befasste, je weniger war er gewillt zu investieren. Ob es sich noch lohnt einzusteigen? Ich glaube ja, aber man muss sich bewusst sein, dass diese Titel extrem volatil und natürlich auch sehr riskant sind. Ich bin jedoch überzeugt, dass sich mit der Zeit die gegenwärtige Unterbewertung gewis-ser Stars sowie die starke Überbewertung gewisser anderer Papiere deutlich abzeichnen wird.
–: Kommt es damit sogar zum Crash?
Buyer: Ach, wenn ich das wüsste! Es ist wahrscheinlich, dass die Internettitel nach ihrem Höhenflug Ende 1999 in nächster Zeit eine Kurskorrektur erfahren. In der Folge erwarte ich starke Einbussen von 25 Prozent oder mehr. Die schwächeren Titel werden praktisch von einem Tag auf den anderen in sich zusammenfallen. Ich glaube hingegen nicht, dass der Bereich als Ganzes einbrechen wird, es sei denn, wir haben es generell mit einem Börsencrash zu tun.
–: Welche Tech-Stocks sind den vergleichsweise crashresistent?
Buyer: Wenn es in einem Markt turbulent zugeht, beobachtet man eine Flucht in Qualitätspapiere. Ich rate daher zu Unternehmen, die ihre Leistungsfähigkeit bereits unter Beweis gestellt haben und wie Microsoft, Yahoo und Intuit über eine grosse Kriegskasse verfügen, oder zu Infrastrukturanbietern wie Cisco, Sun und Norrel.
–: Bekanntlich muss man bei den Internettiteln auf die traditionellen Instrumente der Finanzanalyse verzichten. Für immer oder nur vorübergehend?
Buyer: Eine ausgezeichnete Frage. Ich denke, nur für einige Jahre. Graham und Dodd, die Autoren von «Security Analysis», gestehen ein, dass gelegentlich gewisse Titelgruppen auftauchen, welche die traditionelle Analyse auf die Probe stellen. Sobald der betreffende Bereich jedoch den Kinderschuhen entwachsen ist, kann man wieder zur rein klassischen Analyse übergehen. Bei den Internettiteln ist es dafür noch ein bisschen zu früh. Das ist alles.
–: Wie soll man denn diese Aktien heute bewerten?
Buyer: Titel wie Yahoo oder Amazon werden erstens auf Grund der Anzahl Kunden und zweitens auf Grund ihrer langfristigen Perspektiven bewertet. Natürlich kann ich heute zu diesen beiden Punkten noch nichts sagen, denn die Unternehmen sind noch zu jung. Vielmehr interessieren mich Umsatz und Nettoertrag pro Kunde sowie die Marketingkosten pro Kunde. Am wichtigsten erscheint mir aber die Auseinandersetzung mit den Tendenzen dieser Kennzahlen. Es ist klar, dass der Markt heute bereit ist, mehr für Yahoo oder AOL zu zahlen als für deren Konkurrenz, denn diese beiden Unternehmen verfügen über das beste Kosten-Kunden-Verhältnis. Der Markt zieht eBay Amazon vor, denn eBay verfügt über eine deutlich höhere Marge.
–: Viele gehen davon aus, dass dieser Bereich heute überbewertet ist. Was halten Sie davon?
Buyer: Die Situation ist insofern beunruhigend, als der Markt in der Bewertung der Titel nur langsam zwischen Unternehmen mit einem echten Potenzial und solchen, die in zwei Jahren nicht mehr existieren werden, zu unterscheiden beginnt. Das andere Problem sind jene unkontrollierbaren und irrationalen Kurssteigerungen gewisser Titel, die dadurch entstehen, dass eine grosse Anzahl Anleger mit ungenügender Sachkenntnis in diesen Sektor investiert.
–: Längst nicht alle Internetunternehmen werden überleben. Welche favorisieren Sie?
Buyer: Ich bin nach wie vor vom enormen Potenzial von Yahoo überzeugt. Angesichts des Höhenflugs des Titels Ende 1999 würde ich aber noch einen oder zwei Monate warten, ehe ich investieren würde; es könnte durchaus zu einer Kurskorrektur kommen. Ich glaube auch an Amazon, aber nur langfristig. Kurzfristig besteht das Risiko, dass der Titel sehr volatil ist und Angst einflössende Kurseinbrüche erleidet. Das Unternehmen als solches ist jedoch anerkannt, verfügt über eine treue Kundschaft, ein effizientes Logistiksystem und – am allerwichtigsten – über eine riesige Datenbank mit den Konsumgewohnheiten von Millionen von Kunden. Das sind wichtige Vermögenswerte. Ich bin aber auch ein Fan von Intuit, die sich zwar in Europa schwer tat, in den USA aber nach wie vor sehr gut positioniert ist. Dieses Unternehmen stellt den Verbrauchern ein sehr effizientes Instrument für das Handling ihrer finanziellen Angelegenheiten (Hypotheken, Steuern) zur Verfügung. Darüber hinaus bietet es Privaten und Kleinunternehmen eine ganze Reihe von Finanzdienstleistungen an.
–: Für gewisse Analysten ist Europa das neue gelobte Land. Erhält man hier eine zweite Chance, falls man Amazon oder Yahoo verpasst hat?
Buyer: Wir müssen uns vor Augen halten, dass Yahoo und Amazon noch ganz am Anfang ihrer internationalen Expansion stehen. Man darf sie also nicht unterschätzen, obwohl auch eine ganze Reihe europäischer Unternehmen über ein enormes Potenzial zu verfügen scheint. Es hat schon seinen Grund, dass wir in unserer Niederlassung in London über ein ganzes Team verfügen, das sich mit diesen Titeln befasst. Wir interessieren uns auch vermehrt für Asien. Dies gehört jedoch nicht mehr in mein Ressort, denn ich glaube, man muss vor Ort sein, um den Wert eines Unternehmens einschätzen zu können. Analysten, die behaupten, von den USA aus die ganze Welt abzudecken, verbringen zu viel Zeit im Flugzeug und koppeln sich zwangsläufig von der Realität ab.
–: Wie sollen Anleger vorgehen, wenn sie Aktien von Börsenneulingen zeichnen möchten?
Buyer: Ich empfehle allen privaten Anlegern, sich eine strikte Limite zu setzen, ehe sie einen Auftrag erteilen. Diese sollte höchstens 20 bis 25 Prozent über dem Emissionspreis liegen. Falls es sich um einen ausserordentlich viel versprechenden Börsengang handelt, dürfen es maximal 40 Prozent sein. Kurse, die über diesem Niveau liegen, fallen in den meisten Fällen rasch wieder ab.
–: Nach dem IPO ist es also zu spät, um einzusteigen?
Buyer: Im Gegenteil, sobald sich der Titel einige Tage nach dem Börsengang beruhigt hat, ist der beste Moment für eine Investition gekommen.
–: Demzufolge ist es nicht nötig, eine Kurskorrektur abzuwarten, ehe man investiert.
Buyer: Damit sind wir bei der zweiten Frage. Darauf gibt es keine allgemein gültige Antwort, denn alles hängt vom jeweiligen Titel ab. Microsoft hat nie eine Kurskorrektur durchgemacht; Yahoo hingegen wurde während sechs Monaten unter dem Emissionspreis gehandelt.
–: Welche Strategie empfehlen Sie den Privatanlegern? Sollen sie sich an die besten Titel der Branche oder an die kleinen Unternehmen mit Potenzial halten?
Buyer: Das hängt vom Anleger ab. Falls er für seinen Ruhestand spart, muss er sich auf die Bluechips konzentrieren. Wenn er aber bereit ist, Risiken einzugehen und bei einer Fehlinvestition alles zu verlieren, darf er sich ruhig unter den kleinen Unternehmen umsehen. Wie in jeder anderen Branche ist auch beim Internet das Verhältnis zwischen Risiko und Ertrag ausschlaggebend; die Entscheidung liegt beim Anleger.
–: Welche Strategie soll man verfolgen, wenn man das Risiko möglichst klein halten, aber trotzdem investieren will?
Buyer: Eine Mischung aus grossen Kapitalisierungen, die über Wachstumspotenzial verfügen, einerseits und aus Neulingen anderseits. Wenn möglich, investieren Sie in ein Unternehmen, das Sie kennen. Wenn Sie Yahoo benützen und wenn alle, die Sie kennen, auch Yahoo benützen, ist das eine Information, von der Sie profitieren müssen. Investieren Sie nicht in ein Unternehmen, über dessen Geschäftstätigkeiten Sie nicht wirklich im Bilde sind!