Nahkampf der Kandidaten
Die US-Präsidentschaftswahlen sind das beste politische Auswahlverfahren. Schwächen und Stärken der Kandidaten werden schonungslos offen gelegt.
Dem Gemeindeangestellten Bruce Maxwell im abgelegenen Ort Supai am Fusse des Grand Canyons wurde in diesen Tagen schmerzhaft bewusst, dass die heisse Phase des US-Wahlkampfs begonnen hat. 15 Kilometer den Canyon rauf und 15 Kilometer zurück musste er klettern, um zur Urne im Bezirkshauptort zu gelangen. In seinem Rucksack die Stimmzettel der 22 Wahlberechtigten des Ortes für die US-Vorwahlen.
Der schweisstreibende Trip sorgte für ein paar Tropfen Wasser auf die Mühlen von Präsidentschaftskandidat John McCain: Zehn der Stimmen waren für McCain, zwei für dessen Konkurrenten George W. Bush, zehn waren ungültig.
Nicht mehr nur um einzelne Stimmen in der Provinz wird es am 7. März gehen, wenn am so genannten Super Tuesday in 13 US-Staaten abgestimmt wird, unter anderem im bevölkerungsreichen Kalifornien mit seinen 15 Millionen eingeschriebenen Wählern. Der Super Tuesday gilt als Höhepunkt der Vorwahlsaison, die sich vom Januar bis in den Juni hinzieht.
Die Vorwahlen sind die parteiinternen Ausmarchungen, in denen bestimmt wird, wer für die beiden grossen Parteien, die Demokraten und Republikaner, am Wahltag vom 7. November ins Rennen um die Nachfolge von Bill Clinton steigen darf. Bei den Republikanern treten John McCain, Senator aus Arizona, und George Bush, Gouverneur aus Texas, gegeneinander an. Bei den Demokraten sind Vizepräsident Al Gore und Ex-Sportstar Bill Bradley die Kontrahenten.
Der Kampf um die US-Präsidentschaft ist lang und intensiv – und das beste politische Ausleseverfahren, dass es weltweit gibt. Das System garantiert, dass am Schluss wirklich der geeignetste Mann fürs Weisse Haus übrig bleibt. Im gnadenlosen «Survival of the fittest» kann sich keiner nur durchmogeln.
Anders als in der Schweiz, wo im Hauruck-Verfahren wenig bekannte Leute zu Bundes- oder Regierungsräten gemacht werden, oder in vielen europäischen Staaten, wo die Wahl des Regierungschefs oft ein kurzes Duell zweier von Parteibossen bestimmter Gegner ist, werden die Präsidentschaftsanwärter in den USA unter den Augen des Volkes über Monate gnadenlos geprüft. Keine Schwäche ist so zu verheimlichen, aber auch die Stärken treten klarer hervor.
Das laufende Rennen zeigt das exemplarisch. «Der Wahlkampf ist ein Prozess, um mich zu stählen, euer Präsident zu werden», machte George Bush, lange Zeit der scheinbar uneinholbare Frontrunner, auf Optimismus. Heute droht Bush vom Wahlkampfstress zerquetscht zu werden. Der Wahlkampf hat den Amerikanern die Chance gegeben, ihren Top-Favoriten unter Druck arbeiten zu sehen. Denn in John McCain, dem ehemaligen Kriegshelden und Vietnamveteranen, ist Bush ein starker parteiinterner Gegner erwachsen.
Zu Beginn des Wahlzirkus relativ unbekannt, hat McCain mit seiner hemdsärmligen Art rasch an Unterstützung gewinnen können. Als er im ersten Vorwahlen-Test in New Hampshire überraschend mit 18 Prozentpunkten siegte, stand Bush zum ersten Mal vor einer Krisensituation – und beging prompt einen groben Fehler: Um in der darauf folgenden Vorwahl im konservativen South Carolina nicht wieder eine Schlappe zu erleiden, machte er einen Ruck nach rechts und liess sich von der religiösen Rechten hofieren. Der umstrittene Prediger Pat Robertson durfte für Bush die Wahltrommel rühren und Gegner diffamieren. Bush gewann zwar, doch in den darauf folgenden Staaten Michigan und Arizona war McCain bereits wieder oben.
«Die Amerikaner wollen vom Zentrum aus regiert werden», fasst Arlen Specter, republikanischer Senator aus Pennsylvania, die Erfahrung aus bisherigen US-Wahlkämpfen zusammen. Auch Clinton konnte vor acht Jahren nur gewinnen, weil er in der Mitte Stimmen holte. Bush hatte mit dem Rechtsrutsch wenig politisches Gespür bewiesen. «Wer mit Hunden ins Bett geht, kriegt Flöhe», urteilte das «Wall Street Journal». Plötzlich zweifeln viele Amerikaner daran, ob Bush wirklich ins Weisse Haus passt. «Gott sei gedankt für McCain», schrieb die Zeitschrift «Economist» – ohne den Druck des Gegners wäre Bushs Schwäche wohl unentdeckt geblieben.
McCain anderseits hat der US-typische Prozess der Auslese die Chance gegeben, als Aussenseiter zu einem ernst zu nehmenden Anwärter aufs Präsidentenamt zu werden. Der umgängliche, direkte Politiker, der auch im Lager der Demokraten sowie bei den unabhängigen Wählern Sympathie geniesst, scheint vielen plötzlich als der valablere Kandidat. Sogar in der Frage der Wahlkampffinanzen wirkt der Prozess ausgleichend. Anfang Jahr hatte Bush mit 70 Millionen Dollar noch die mit Abstand vollste Wahlkampfkasse.
Im verzweifelten Abwehrgefecht mit McCain verpulverte er in wenigen Wochen 60 Millionen, unter anderem für TV-Spots in Arizona, das als Heimatstaat von McCain ohnehin verlorenes Gebiet war. Inzwischen sind die beiden Kontrahenten finanziell fast gleichauf. Bush hat zehn Millionen in der Kasse, McCain acht. Man habe für den Kampf gegen McCain auch «in den Gore-Pool tauchen müssen», gaben die Helfer von Bush zu. Das Geld, das eigentlich für die Schlussrunde gegen den Demokraten vorgesehen war, fehlt nun. Damit hätte der Republikaner auch gegen den Demokraten Gore keinen längeren Spiess mehr. Noch Ende 1999 schien der Etat des vom Parteiestablishment gehätschelten Bush derart übermächtig hoch, dass einzelne Kandidaten wie Elizabeth Dole forfait gaben und ausstiegen.
Während bei Bush der Wahlkampf eher dazu geführt hat, Schwächen aufzuzeigen, hat Gore eher an Format gewonnen. Der noch vor einem Jahr als hölzern geltende Vizepräsident hat zu erstaunlicher Lockerheit gefunden. Beraten von seiner 26-jährigen Tochter Karenna, hat er sein Image geändert. Der Mann, den man vor allem in Krawatte und Massanzug zwischen Staatschefs im Weissen Haus kannte, ist den Ruf des abgehobenen Karrierepolitikers losgeworden. Auf der Wahlkampftour sah man einen neuen Al Gore, der in Hemd und Westernstiefeln, mit Brotkrümeln am Kinn, in kleinen Vorstadtcafés mit den Wählern diskutierte. Seine häufigen TV-Auftritte haben den Amerikanern ausserdem in Erinnerung gerufen, wie sattelfest Gore in den Politdossiers ist. Aussen- wie innenpolitisch zeigt er in Sachfragen grosse Kompetenz.
Der Wahlkampf zeigt auch, dass der zurückfällt, der sich nicht ändert und sich nicht den Bedürfnissen der Mehrheit des Wählervolkes angleicht. Dies erfährt derzeit Bill Bradley, der innerparteiliche Kontrahent von Gore. Der langjährige Senator aus New Jersey und ehemalige Profi-Basketballer hat sich am wenigsten von allen vier Top-Favoriten verändert. Bradley wirkt so unpersönlich wie eh und je. Im Gegensatz zu Gore zeigt er auch keine Anstalten, weniger anzuecken. So traf Bradley sich offen mit dem umstrittenen Schwarzenführer Al Sharpton, während Gore ihn nur hinter verschlossenen Türen besuchte.
Bradley hat zudem das schlechteste Beraterteam aller Kandidaten. Seine Strategen, fast alles alte Freunde, gehen zu behutsam mit ihm um und kritisieren seine Fehler kaum. In dieser Hinsicht gleicht er Bush, der sich mit Vertrauten wie Karl Rove umgeben hat, die ihn in Texas zum Gouverneur machten, national aber überfordert scheinen. Was Bradley brauche, riet das Magazin «Newsweek», sei ein Beraterprofi wie James Carville, ein mit allen Wassern gewaschener Demagoge, der schon Bill Clinton zum Wahlerfolg verholfen hat. Die Zusammensetzung der Teams zeigt, wie die Präsidentschaftsanwärter Personalentscheide fällen – eine der ganz wichtigen Aufgaben eines Regierungschefs.
Bradleys Strategie bröckelt: Laut neuesten Meinungsumfragen liegt Gore mit 58 gegen 21 Prozent klar vor seinem demokratischen Gegner. Mit grosser Wahrscheinlichkeit wird Gore am Konvent der Demokraten Mitte August zum Kandidaten seiner Partei bestimmt.
Gegen wen er im November antritt, wird in den Tagen zwischen dem Super Tuesday vom 7. März und dem darauf folgenden Southern Tuesday vom 14. März, an dem grosse Südstaaten wie Texas oder Florida wählen, entschieden. Meinungsumfragen deuten für den Super Tuesday auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Bush und McCain. McCain liegt in New York mit 45 zu 39 Prozent vorne, Bush in Kalifornien mit 48 zu 23 Prozent. Am Southern Tuesday hat Bush die besseren Karten, denn Texas ist sein Heimatstaat, und in Florida ist sein Bruder Jeb Gouverneur. Der republikanische Kandidat dürfte danach feststehen, nominiert wird er Ende Juli am Konvent der Partei.
In der letzten Phase des Wahlkampfs im Herbst, wenn die 200 Millionen wahlberechtigten Amerikaner ihren nächsten Präsidenten wählen, wird jener der beiden Nominierten herausragen, dem es gelingt, die Wählermitte zu erreichen. Dort werden US-Wahlen in der Regel entschieden. Dies bestätigen die Umfragen, die dem zentristisch ausgerichteten McCain bessere Chancen gegen Gore einräumen als Bush. McCain würde heute mit 59 zu 35 Prozent siegen, Bush mit 50 zu 45 Prozent. Die paar Prozent Unterschied könnten am Wahltag entscheidend sein, denn Gore, der das Image des Landesvaters pflegt, legt stetig zu.