Zahnärzte: Kontrolle ist besser
Sie arbeiten weitgehend nach eigenem Gutdünken, ihre Leistung überprüft niemand. Nun wollen Zahnärzte endlich Qualitätsrichtlinien aufstellen. Doch von Kontrollinstanzen möchten sie nichts wissen.
Einen Termin erhalten Sie schnell, im Wartezimmer liegen aktuelle Heftchen auf, die Preise sind anständig, und der neue künstliche Zahn hält. Auch zeigt der Zahnarzt Verständnis dafür, dass Ihre Hände sich im Schoss verkrampfen, wenn er zur Spritze greift. Mein Zahnarzt ist ein guter Zahnarzt, glauben Sie. Aber wissen Sie es auch?
Normale Patienten wissen es nicht. Laien ist es kaum möglich, die fachliche Qualität eines Zahnarztes auf Grund einiger Erfahrungen auf dessen Stuhl zu beurteilen. Sind die Zahnschmerzen weg, sind wir zufrieden.
Weiss Ihr Zahnarzt, wie gut er ist? Er glaubt es zu wissen. Doch seine einzige Messgrösse ist sein Gefühl. Die Qualität seiner Arbeit hat er noch nie systematisch erfasst.
Das soll nun anders werden. Die Schweizerische Zahnärzte-Gesellschaft (SSO) – der einzige Berufsverband der Schweizer Zahnärzte – will ein System einführen, mit dem bald jeder Zahnarzt die Qualität seiner Leistungen messen und verbessern kann. Passt die Prothese perfekt oder sind alle Bakterien aus der Zahnfleischtasche vertrieben, kann sich der Zahnarzt die Bestnote A ins Heft schreiben.
Die Idee, die eigene Arbeit zu kategorisieren, zu bewerten und zu verbessern, stösst in der 4000 Mitglieder zählenden Gemeinde der Zahnärzte nicht nur auf Gegenliebe. Umso mehr bei den Patienten. Sie zahlen für die Dienstleistung des Zahnarztes so hohe Summen, dass sie wissen wollen, wie gut das Geschäft ist, das sie abschliessen.
Die Gebisse der Schweizerinnen und Schweizer sind im internationalen Vergleich Vorzeigemodelle, die Schweizer Zahnmedizin gehört in einigen Gebieten zur Weltspitze. Wozu also die hitzige Diskussion um bessere Qualität in Schweizer Zahnarztpraxen?
Weil die Zahnärzte am strahlend weissen Erfolg nur bedingt beteiligt sind. Der wichtigste Grund, dass der Kariesbefall in den letzten 30 Jahren bei Jugendlichen um fast 90 Prozent zurückgegangen ist, sind umfangreiche Prophylaxe-Bemühungen. «Aus der vergleichsweise erfreulichen Situation zu schliessen, sämtliche Zahnärzte in der Schweiz seien besser als die Kollegen im Ausland, finde ich weit hergeholt», sagt Daniel Kempf, Zahnarzt in Basel und treibende Kraft in der Qualitätsdebatte. Dank den nun vorgeschlagenen Qualitätsrichtlinien könne jeder selber prüfen, ob er den guten Ruf verdiene. «Wenn nicht, soll er machen, dass er so weit kommt.»
Heute kann der Patient die fachliche Qualität eines Zahnarztes nur beschränkt ermitteln. Hingegen ist es möglich abzuschätzen, wie gewissenhaft er arbeitet. Kriterien, auf die man achten sollte, hat die Schweizerische Patientenorganisation zusammen mit der Stiftung für Konsumentenschutz ausgearbeitet. So bespricht etwa ein guter Zahnarzt die Zahnschäden ausführlich mit seinem Patienten und schlägt ihm mögliche Behandlungsmethoden vor. Für eine geplante Zahnbehandlung sollte der Zahnarzt unbedingt eine detaillierte und übersichtliche Offerte aufstellen. Ausserdem sollte er den Patienten über die durchschnittliche Lebensdauer der Zahnreparatur informieren.
Die Qualitätsdebatte wird nicht ganz freiwillig geführt. Schon lange nämlich droht der Staat, selber aktiv zu werden, wenn die Schweizer Zahnärzte von hoher Qualität weiterhin nur reden und sie nicht belegen. «Der Bundesrat kann nach Anhören der interessierten Organisationen systematische wissenschaftliche Kontrollen zur Sicherung der Qualität vorsehen», heisst es im Krankenversicherungsgesetz.
Die SSO soll die Qualitätsdebatte nun vorwärts treiben, «bevor uns jemand zwingt», sagt Kempf. 1400 Zahnärzte trafen sich im Juni in Basel, um die von Fachgruppen ausgearbeiteten Qualitätsstandards zu diskutieren. Nun liegen die «Qualitätsrichtlinien für die praktische zahnmedizinische Tätigkeit» in einem zweiten Entwurf vor. Darin wird beispielsweise beschrieben, wann eine Prothese die Note A verdient: Wenn Stabilität, Halt und Tragkomfort perfekt sind, die Pflege durch den Patienten tadellos ist und das Tragen der Prothese zur Gesunderhaltung der Gewebe im Mund beiträgt. Die Note A steht in den verschiedenen Fachgebieten für «Auftrag erfüllt». B steht für «mangelhaft» und C für «inakzeptabel».
Die Qualitätsrichtlinien sind zur Selbstkontrolle gedacht. Die Delegiertenversammlung der SSO soll nun entscheiden, ob die Standards veröffentlicht und damit transparent und nachvollziehbar gemacht werden sollen; ob jeder Interessierte – auch der Patient – sie in Buch- oder Heftform studieren darf.
Wie schwierig es ist, Qualität zu definieren, umzusetzen und zu überprüfen, zeigen misslungene Versuche in England und Deutschland. 1991 hat das Royal College of Surgeons of England ein Handbuch mit Qualitätsrichtlinien erarbeitet und dieses an alle Zahnärzte verschickt. Nach dieser Pioniertat wurde allerdings nicht kontrolliert, wer das Handbuch liest. «Heute wissen wir nicht, wie viele Zahnärzte ihre Qualität messen», sagt der Verfasser des Werks, Michael Grace.
In Deutschland ist ein ähnlicher Versuch aus einem anderen Grund missglückt: «Es wurde angenommen, die rein handwerkliche Arbeit beschreibe die Qualität», sagt Winfried Walther von der Akademie für Zahnärztliche Fortbildung in Karlsruhe. So wurde beispielsweise festgelegt, wie viele Tausendstelmillimeter eine Spalte zwischen Füllung und Zahn höchstens messen dürfe. Kein Mensch kann das messen. «Und niemand weiss, ob eine derart kleine Spalte sich für den Patienten ungünstig auswirkt», sagt Walther. Er plädiert deshalb für eine andere Messart: Als Mass für Qualität eigneten sich die gemeinsamen Entscheidungen des Zahnarztes und des Patienten. Bei der Beurteilung einer Behandlung müsse der Patient eine wichtige Rolle spielen, «weil man die Verminderung des Leidensdrucks nicht objektiv beurteilen kann».
Die Antwort auf die Frage, was Qualität ist, würde durch ein starkes Mitspracherecht des Patienten zweifellos spannender – aber nicht einfacher. Der Patient mag viel vom Bankwesen verstehen, vom Lehrerberuf oder von Fussball, bei der fachlichen Beurteilung der zahnärztlichen Leistung muss er sich auf das Gefühl verlassen – und liegt damit oft daneben: In einer Studie der deutschen Allgemeinen Ortskrankenkassen besuchten 20 Freiwillige je zehn Zahnärzte, um sich Heil- und Kostenpläne erstellen zu lassen. Das Resultat: Ein Drittel der Zahnärzte hatte keine Krankengeschichte erhoben, nur ein Viertel prüfte die Vitalität der Zähne, und die Kosten unterschieden sich in Einzelfällen um 600 Prozent. «77 Prozent der Beratungen basierten auf einem mangelhaften Fundament», kritisieren die Autoren. «Eine Blamage für die Medizin», empörte sich die Zeitung «Die Woche». Und die Probanden? Fast 60 Prozent von ihnen fühlte sich gut beraten.
In einer Studie der Uni Bern wurden die Leistungen von Zahnärzten in der Schweiz und im Ausland verglichen.
Die Frauen und Männer, welche sich in Ungarn behandeln liessen – dort ist die Behandlung billiger und angeblich besser –, erteilten den ungarischen Zahnärzten in 85 Prozent der Fälle die Note genügend. Aus wissenschaftlicher Sicht hielten nur sieben Prozent der Behandlungen dieser Einschätzung stand.
In den Richtlinien der SSO wird der Patient nicht so stark einbezogen wie von Winfried Walther vorgeschlagen – aber auch nicht ignoriert, wie in Deutschland geschehen. Es wurde ein schweizerischer Mittelweg gewählt: Der Patient erscheint als ein Faktor unter vielen.
Die Frage, wie laut dieser Faktor mitreden darf, wenn es um die Durchsetzung der Qualitätsstandards geht, erhitzt die Gemüter. In Leserbriefen der «Schweizerischen Monatsschrift Zahnmedizin» warnten beunruhigte Zahnärzte vor unerwünschten Kontrollinstanzen und einem Missbrauch der Richtlinien. Die Noten A bis C würden zur Einteilung in gute und schlechte Zahnärzte führen. «Kaum recherchierte Schlagzeilen und Fotos von Negativbeispielen in den Medien sind programmiert», schrieb ein Zahnarzt. Und: «Juristen, Versicherungen, Patientenorganisationen, Journalisten und weitere werden sich in die Diskussion einschalten und Einfluss nehmen wollen.»
Von Kontrollinstanzen will die SSO nichts wissen und beruhigt ihre Mitglieder: «Kontrollinstanzen braucht es nicht, und wir wollen sie deshalb auch nicht.» Die SSO hofft auf die Einsicht, dass ins Hintertreffen gerät, wer keine Qualitätssicherung betreibt. «Der Patient kann seinen Zahnarzt künftig fragen, ob er sich an den Qualitätsstandards orientiere», erläutert Daniel Kempf. Niklaus Lang, Professor für Parodontologie (Zahnfleischerkrankungen) an der Universität Bern, sagt: «Auch bei einem Lehrbuch kann man nicht erzwingen, dass die Leute den Inhalt vollständig inhalieren.»
Aus Sicht der Schweizerischen Patientenorganisation jedoch hat der Patient das Recht zu wissen, ob der Zahnarzt das Handbuch so selbstverständlich in die Finger nimmt wie den Mundspiegel. «Die SSO könnte die Zahnärzte, die sich an der Qualitätssicherung beteiligen, mit einem Sternchen (SSO*) auszeichnen», schlägt Ursula Gröbly vor, Beraterin bei der Schweizerischen Patientenorganisation. Kempf räumt ein, man habe in der Weiter- und Fortbildungskommission der SSO «laut an eine ähnliche Möglichkeit gedacht». Aus rechtlichen Gründen sei man davon abgekommen. «Der Patient soll den Zahnarzt einfach fragen, ob er sich an den Qualitätsrichtlinien orientiert», schlägt er vor.
Damit geschieht, was der leserbriefschreibende Zahnarzt befürchtet: Der Patient, die Patientenorganisation und die Journalisten mischen sich in die Qualitätsdebatte ein. Gut so.