Wild entschlossen
Die Flugzeugentführung nach Afghanistan ist die Fortsetzung des Kaschmir-Konflikts mit andern Mitteln.
Damit hatten die Entführer des Airbus A-300 der Indian Airlines nicht gerechnet. «Ich will gar nicht raus», liess sich Maulana Masud Azhar, Chefideologe der islamistischen Bewegung Harkat al-Mudschaheddin, am dritten Tag des Geiseldramas aus seiner Zelle in einem indischen Hochsicherheitsgefängnis vernehmen. «Jedenfalls nicht auf die Art», sagte der 31-jährige Schriftgelehrte. Er wolle seine Freiheit nicht mit Hilfe von Drohungen gegenüber unschuldigen Menschen erlangen.
Die milden Töne des Muslimführers wollten nicht recht zur wilden Entschlossenheit der sechs schwer bewaffneten Geiselnehmer passen, die in den ersten Stunden der Entführung einen indischen Geschäftsmann erstachen, weil er sich die befohlene Binde von den Augen gerissen hatte. Die Kidnapper fordern 200 Millionen Dollar und die Freilassung von 35 islamistischen Kämpfern, die sich in indischen Gefängnissen befinden.
Auf der Liste steht auch der Name von Maulana Masud Azhar. Die indischen Sicherheitskräfte zählen ihn zu den gefährlichsten Drahtziehern der pro-pakistanischen Freischärler in der Provinz Jammu und Kaschmir. Azhar hat in seiner Heimat Pakistan Islamwissenschaften studiert und später die Zeitschrift «Stimme der Freiheitskämpfer», das offizielle Organ der militanten fundamentalistischen Organisation Harkat al-Ansar, herausgegeben. 1994 überquerte Azhar mit einem falschen Pass die Grenze nach Kaschmir, um den heiligen Krieg gegen die indischen Machthaber anzufachen. Er wurde nach wenigen Wochen verhaftet. Seither sitzt er im Hochsicherheitsgefängnis Kote Balwal ausserhalb der Stadt Jammu.
Es ist nicht das erste Mal, dass Azhar freigepresst werden soll. Am 4. Juli 1995 verschleppte die Gruppe al-Faran sechs westliche Touristen in Kaschmir und forderte seine Freilassung. Einer Geisel gelang die Flucht. Eine weitere wurde fünf Wochen später enthauptet in einem Wald gefunden. Von den übrigen vier, einem Amerikaner, einem Deutschen und zwei Briten, fehlt bis heute jede Spur.
Die indischen Behörden behaupteten damals, hinter al-Faran stecke die Gruppe Harkat al-Ansar, was diese jedoch bestritt. Harkat al-Ansar wurde Anfang der Neunzigerjahre gegründet und hat sich die Befreiung von Kaschmir zum Ziel gesetzt. Wie andere militante islamistische Gruppen hat Harkat al-Ansar ihre Wurzeln im Afghanistankrieg. Viele Mitglieder haben in den Achtzigerjahren im heiligen Krieg gegen die ungläubigen Sowjets ihre ersten Erfahrungen gesammelt. 1997 nahm das US-Aussenministerium Harkat al-Ansar in seine Liste terroristischer Vereinigungen auf. Darauf änderte sie ihren Namen in Harkat al-Mudschaheddin.
Die Harkat-Krieger werden in Lagern in Afghanistan und Pakistan ausgebildet. Geld fliesst aus Pakistan und Saudiarabien. Die Organisation verfügt laut westlichen Experten über mehrere tausend Kämpfer in Kaschmir. Allein dieses Jahr wird Harkat al-Mudschaheddin von den indischen Behörden für mehrere Dutzend Attacken auf Sicherheitskräfte und Zivilisten verantwortlich gemacht. Anfang Woche hat sie sich zum blutigen Überfall auf das Hauptquartier der indischen Sonderpolizei in Srinagar bekannt. Mit der Entführung der Indian-Airlines-Maschine will Harkat al-Mudschaheddin jedoch nichts zu tun haben.
Auch sonst haben sich in dem Fall die üblichen Freunde militanter Islamisten rar gemacht. Die Taliban-Milizen, die normalerweise Gotteskrieger aller Art mit offenen Armen empfangen, liessen den Kidnappern kurz nach der Landung des Flugzeuges in der südafghanischen Stadt Kandahar ausrichten, sie seien hier unerwünscht und sollten möglichst rasch wieder verschwinden. Grund: Seit die Uno Sanktionen gegen sie verhängt hat, bemühen sich die Taliban, die ausser von Pakistan und Saudiarabien von keinem Land anerkannt werden, um eine nachhaltige Verbesserung ihres Images als Terroristenfreunde. Die islamistischen Kaschmir-Rebellen können jedoch sicher sein, nach dem Ende des Dramas wieder kräftig unterstützt zu werden. Sowohl von den Taliban als auch von Pakistan.
Die Wurzeln des Kaschmir-Konflikts reichen über 50 Jahre zurück. Als Grossbritannien 1947 Indien und Pakistan in die Unabhängigkeit entliess, mussten sich etwa 560 Fürsten entscheiden, wem sie sich anschliessen wollten. Die meisten taten sich leicht – ausser der Maharadscha von Jammu und Kaschmir. Während seine mehrheitlich muslimischen Untertanen nach Pakistan drängten, liebäugelte der Hindu-Fürst mit einem eigenen Staat. Er zögerte seinen Entscheid monatelang hinaus, bis muslimische Freiheitskämpfer einmarschierten, um den Anschluss an Pakistan mit Gewalt zu erzwingen. In seiner Not rief der Maharadscha indische Truppen zu Hilfe, welche die Eindringlinge bis auf die heute noch gültige Kontroll-Linie zurückwarfen.
Auf den Waffenstillstand 1948 folgten zwei Uno-Resolutionen. Pakistan sollte seine Truppen abziehen, Indien reduzieren. Passiert ist das Gegenteil. Beide Länder rüsteten ständig auf und verfügen inzwischen sogar über Atomwaffen. 1965 und 1971 bekriegten sie sich. Heute hat Indien in der Provinz Kaschmir 200 000 schwer bewaffnete Soldaten stehen. Die täglichen Artillerieduelle an der Kontroll-Linie tragen rituelle Züge. Zurückschiessen ist Ehrensache.