Noch lange keine Normalität

Normalität

Der Zentralrat der Juden in Deutschland wählt am Wochenende einen neuen Präsidenten. Durch diesen Generationswechsel bessere sich das Verhältnis zu den Deutschen nicht automatisch, sagt Zentralrats-Mitglied Salomon Korn.

–: Herr Korn, am 9. Januar wählt der Zentralrat der Juden in Deutschland einen neuen Präsidenten. Wird es zu einem Generationswechsel kommen?
SALOMON KORN: Ja und nein. Die beiden Kandidaten, Paul Spiegel und Charlotte Knobloch, gehören zu den Menschen, die noch während des Kriegs geboren wurden, das Inferno des Nationalsozia-lismus aber nicht am eigenen Leib erfahren haben. Insofern ist es ein Wechsel – in der Mentalität.

–: Wie wird sich der Wechsel
äussern?
KORN: Ignatz Bubis, der verstorbene Präsident, gehörte noch zur Erlebnisgeneration. Er hat seine Aufgabe als Mission begriffen. Er hatte das Todeslager überlebt, weil er lebenstüchtig war und Glück hatte. Das hat Bubis und seiner Generation – als «Auswahl» der Tüchtigsten – die Energie und das Rüstzeug gegeben, nach 1945 den Aufbau der jüdischen Gemeinden voranzutreiben. Man kann sagen: Die eine war die Pioniergeneration, die andere ist die Generation der Verwalter.

–: Das Verhältnis zwischen Deutschen und Juden der zweiten Generation scheint noch immer verkrampft. Wird sich das ändern?
KORN: Das ist schwer zu sagen. Die zweite Generation der Juden, die das Inferno nicht unmittelbar erlebt hat, ist deswegen nicht frei von Vergangenheit. Die Nachfahren der Opfer haben einen Teil der Schwarzen Löcher, die in der Seele ihrer Eltern vorhanden sind, im sozialen Erbgang übernommen. Man darf nicht vergessen, dass die «Opfergeneration» meist nicht in der Lage war, ihre Ängste und Erlebnisse zu verbalisieren. Sie wurden aus Selbstschutz geleugnet und verdrängt. Hier gibt es weiterhin eine Vererbung von Ängsten und seelischen Wunden. Etwas Ähnliches gilt auch für die Nachkommen der «Tätergeneration». Auch dort wurde verschwiegen, was geschehen ist. Diese Tatsache steht einer wirklichen Entkrampfung weiter im Weg.

–: Sie selbst gehören dieser Generation an. Es ist auch die Generation der heutigen Politiker, etwa des SPD-Kanzlers Gerhard Schröder.
KORN: Diese neue Generation von Politikern hat die Gräuel des Krieges nicht mehr in demselben Mass verinnerlicht, wie das etwa bei der Generation von Helmut Kohl noch der Fall war. Die Frage ist, ob das Verantwortungsgefühl der neuen Generation dasselbe sein wird. Es könnte statt zu einer Entkrampfung zwischen Deutschen und Juden zu einer gewissen Dreistigkeit der jüngeren Deutschen gegenüber den Juden kommen – nach dem Motto: «Wir haben damit nichts zu tun. Wir Unbelastete können es uns leisten, Normalität zu leben.» Diese Haltung entspricht aber nicht der Seelenlage der überlebenden jüdischen Opfer und deren Nachkommen. Bis wir von «Normalität» werden sprechen können, werden nach meiner Einschätzung noch min-destens zwei Generationen vergehen.

–: Sie haben nach Ignatz Bubis’ Tod gesagt, die jüdische Gemeinde müsse «erwachsen» werden. Denselben Begriff verwendete Kanzler Schröder, als er behauptete, Deutschland sei «erwachsen geworden». Ist das Zufall?
KORN: Schröder repräsentiert einen politischen Generationswechsel, und uns Juden steht nach dem Tod von Ignatz Bubis ebenfalls ein Generationswechsel bevor. Insofern gibt es eine zeitliche Übereinstimmung. Aber inhaltlich gesehen ist das etwas völlig anderes: Schröder meint, Deutschland habe bewiesen, dass es in das westliche Bündnis gehört, dass es sich als Demokratie bewährt habe. Der Abstand zur Ver-gangenheit sei jetzt so gross, dass man erwachsen – in dem Fall nichts anderes als «normal» – geworden sei im Verhältnis zu den einstigen Kriegsgegnern und auch zu den Juden. Das ist, zumindest auf die Juden in Deutschland bezogen, eine etwas kurzsichtige Betrachtungsweise.

–: Und worauf bezogen Sie sich mit dem Begriff des Erwachsenwerdens?
KORN: Wenn ich sage, wir Juden müssten erwachsen werden, heisst das: Wir müssen uns von der Vätergeneration, wie sie Bubis vertrat, allmählich lösen. Diese Generation war schon durch ihre Authentizität in der nicht-jüdischen Welt ein politischer Faktor. Die Väter- oder Erlebnisgeneration hat einen Schutzwall um uns jüngere Juden aufgebaut. Wir haben diesen Schutz nicht mehr. Insofern müssen wir erwachsen werden.

–: Ist auf der deutschen Seite ein Lernprozess in Gang gekommen?
KORN: Man kann es nicht auf einen Nenner bringen. Einerseits: In keinem Land ausserhalb Israels werden so viele Publikationen über das Judentum veröffentlicht wie in Deutschland. Das Interesse ist gewachsen, nicht unbedingt nur an den Juden, auch an der deutsch-jüdischen Vergangenheit. Die Deutschen beginnen zu begreifen, dass die Juden in irgendeiner Weise Teil ihrer eigenen Geschichte sind, vor allem der dunkleren Seite der deutschen Volksseele. Auf der anderen Seite haben wir gegenläufige Tendenzen, etwa in den neuen Bundesländern, wo immer wieder Schändungen jüdischer Friedhöfe vorkommen.

–: Nach einer Umfrage möchte jeder fünfte Deutsche keinen Juden zum Nachbarn haben. Entspricht das Ihrer Erfahrung?
KORN: Wir wissen aus Umfragen der letzten zwanzig Jahre, dass 15 Prozent der Deutschen offen antisemitisch sind. Das ist europäischer Durchschnitt, aber deswegen noch lange nicht tröstlich, wenn man an die besondere Geschichte Deutschlands denkt. Weitere 15 bis 20 Prozent der Deutschen sind latent anti-semitisch. Auffällig ist, dass der latente Antisemitismus sich zunehmend offen äussert. Von 1945 an gerechnet ist aber die Tendenz eher abnehmend. Besorgniserregender ist die massive antisemitische Propaganda im Internet. Das ist schwerer zu fassen.

–: In derselben Studie äussern etwa vierzig Prozent der Befragten das Stereotyp, die Juden hätten zu viel Einfluss.
KORN: Zum Stereotyp über den angeblichen Einfluss der Juden hat der deutsche Philosoph Adorno einmal treffend gesagt: «Der Antisemitismus ist das Gerücht über den Juden.» Das Gerücht sagt zum Beispiel, dass es in Deutschland sehr viele Juden gibt. Ich habe das früher an Politikern getestet und immer wieder gefragt, ob es 50 000, eine halbe Million oder 1,5 Millionen seien. Immer war die Antwort 1,5 Millionen, während es damals 50 000 waren. Man muss sich das einmal vorstellen. Das bedeutet, dass in der Vorstellung vieler Deutscher nicht nur 50 000 Juden in Deutschland leben, sondern zusätzlich jene sechs Millionen während der Nazizeit ermordete Juden das Bewusstsein dieser Menschen beeinflussen. Hinzu kommt eine Präsenz bestimmter jüdischer Vertreter und jüdischer Themen in den Medien. Auch das trägt zum Stereotyp und zum Mythos über den Einfluss der Juden bei.

–: Worin liegen die tieferen Gründe für die Mythenbildung der Christen über die Juden?
KORN: Ich sag es mal plakativ: Ich glaube, dass die Christen den Juden nicht verzeihen, dass sie keine originäre Religion haben, dass das Christentum aus dem Judentum stammt. Die Juden sind seit Jahrhunderten Projektionsfläche der nichtjüdischen Bevölkerung gewesen. Alles was die christlichen Untertanen an sich hassten oder verdrängten, übertrugen sie kompensatorisch auf die Juden, die gesellschaftlich weit unter ihnen standen. Das konnten Ohnmachtsgefühle aus erfahrener Unterdrückung sein, geheime Ängste, Neid. Die späten Schriften des Reformators Martin Luther triefen von einer Judenfeindschaft, die fast schon nationalsozialistisch ist. Schon Luther forderte, die Synagogen zu verbrennen, die Juden aus ihren Häusern zu vertreiben, weil sie nicht zum Chris-tentum übertreten wollten.

–: Sie haben die Präsenz des Themas Juden und Nationalsozialismus in den Medien erwähnt. Der Schriftsteller Martin Walser hat vor einem Jahr in einer Aufsehen erregenden Rede behauptet, das Thema sei überpräsent, was ihn zu andauerndem Wegschauen zwinge. Hat die Rede der Annäherung zwischen Deutschen und Juden geschadet?
KORN: Sie hat bei vielen Deutschen die Reaktion bewirkt: Endlich habe mal einer gesagt, was viele gedacht hätten, aber nicht sagen durften. Übrigens befand das sinngemäss auch Kanzler Schröder. Ich frage mich, was das für eine Moral ist. Offensichtlich gibt es moderne «Hofnarren», die sagen dürfen, was der Herrscher denkt, denn der Herrscher selbst sagt es nicht, aus irgendwelcher politischer Raison.
Auf der einen Seite begrüsse ich aber, dass die Menschen aus sich herausgekommen sind, weil damit klar wird, wie die Seelenlage vieler Deutscher aussieht. Die andere Seite ist: Ein Intellektueller wie Martin Walser äussert seine Gefühle – das darf er ja –, analysiert dann aber nicht sein Unvermögen hinzuschauen. Er fragt nicht: Warum kann oder will ich, Martin Walser, mit meiner Biografie, meiner Geschichte, die Bilder aus den Konzentrationslagern nicht mehr ertragen? Das finde ich gefährlich: den Verzicht eines bekannten Intellektuellen auf kritische und rationale Durchdringung des Problems. Stattdessen: gefühlsgeladene Legitimationsversuche.

–: Sie engagieren sich zurzeit für die Wiedergutmachung deutscher Firmen an den Zwangsarbeitern. Nur ein Bruchteil der betroffenen Firmen will sich beteiligen. Sie haben geschrieben, dass sich in der Debatte über die Wiedergutmachung unheilvoll die deutsche Vergangenheit fortsetzt.
KORN: Bisweilen heisst es: Da sind schon wieder die Juden, die Geld wollen – dabei waren nur etwa zehn Prozent der Zwangsarbeiter Juden. Ich habe die Stollen bei Nordhausen besucht, die in den Berg getrieben wurden, um dort die V2-Raketen zu konstruieren unter Leitung des Physikers Wernher von Braun, der seine Arbeiter aus dem Konzentrationslager Buchenwald geholt hatte. Die Leute arbeiteten in den Stollen, ohne zu wissen, ob Tag oder Nacht war, und in ständiger Panik zu ersticken. Es geht hier um Menschen, denen materiell nie etwas ausgeglichen wurde. Im Übrigen leben von 12 bis 14 Millionen Zwangsarbeitern heute gerade noch zehn bis fünfzehn Prozent. Wenn man ausrechnet, was die deutsche Wirtschaft allein durch Wegsterben von Anspruchsberechtigten gespart hat, sind das enorme Summen. Das «deutsche Wirtschaftswunder» nach dem Zweiten Weltkrieg ist ohne die Zwangsarbeiter nicht denkbar. Vieles an Infrastruktur und Maschinen konnte nach 1945 wieder verwendet werden.

–: Auch die Schweiz hat einiges an sich entdeckt, womit man nicht so schnell ins Reine kommen kann: Flüchtlingspolitik während des Zweiten Weltkriegs, Goldhandel mit den Nazis, nachrichtenlose Vermögen. Im Gegensatz zu Deutschland findet die Gewissensdiskussion spät und von Widerständen begleitet statt. Stört Sie das?
KORN: Die Schweiz hat nicht dieselbe Geschichte wie Deutschland, das muss man einfach sehen. Wenn es in der Schweiz faschistische Tendenzen gegeben hat – in den Zwanziger- und Dreissigerjahren –, haben sie nicht zum selben Ergebnis geführt wie in Deutschland. Die Schweiz hat während des Zweiten Weltkriegs zusammen mit anderen europäischen Ländern eine Mitschuld auf sich geladen. Mit der Zeit wird sich die Diskussion um den Holocaust auf die gesamteuropäische Ebene verschieben, um die Verstrickungen auch anderer europäischer Länder in das nationalsozialistische Verbrechen zu durchleuchten. Das ist gut so. Denn wir wissen aus der Psychoanalyse: Alles, was verdrängt und nicht benannt ist, hat die Tendenz in unkontrollierbaren Abkömmlingen immer wiederzukehren – bis man es endlich benennt, bis man ihm Kontur, Form und Gestalt gibt.

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