Spitze, diese Kandidaten!
Sex, Lug und Betrug: Die Wahl eines Londoner Bürgermeisters ist eine Schlammschlacht ersten Ranges.
Noch vor zwei Monaten gehörte er zum englischen Establishment und war in den besten Clubs ein gern gesehener Gast. Jetzt ist Lord Jeffrey Howard Archer of Weston-super-Mare am Boden zerstört. Der Politiker und Erfolgsautor hat Schulden in Millionenhöhe, muss demnächst vor Gericht erscheinen und steht vor dem Ausschluss aus seiner Konservativen Partei.
Archer ist das bisher prominenteste Opfer der Schlammschlacht in der Wahl für das Londoner Bürgermeisteramt im kommenden Mai. Sex, Lug und Betrug bestimmen eine Auseinandersetzung, die sich der Politik längst entzogen hat. Die erste Volkswahl eines Londoner Bürgermeisters ist zu einem Catch-as-catch-can geworden, in dem nur eine Devise gilt: Jeder gegen jeden. «Das Schlachtfeld ist übersät mit Leichen und Schwerverwundeten», konstatierte die «Times» fünf Monate vor der Wahl.
Der erste Spitzenkadidat der Konservativen Partei, Lord Archer, stürzte über seine Vergangenheit. Er bewog vor 13 Jahren einen Freund, ihm ein falsches Alibi zu verschaffen. Der «Daily Star» berichtete damals, Archer habe sich mit einer Prostituierten vergnügt und ihr 2000 Pfund Schweigegeld bezahlt. Archer verklagte das Blatt erfolgreich; er liess seine angebliche Unschuld durch einen Freund vor Gericht bestätigen. Für diesen war im Wahlkampf die Zeit gekommen, die Wahrheit auf den Tisch zu bringen.
Ex-Millionär Jeffrey Archer, finanziell wegen Fehlinvestitionen ohnehin schwer gebeutelt, steht jetzt vor einer Gegenklage des «Daily Star». Er ist für seine Partei zu einer solchen Belastung geworden, dass ein Ausschlussverfahren gegen ihn läuft.
Archer befindet sich nicht zum erstenmal vor einem Desaster: Seine Sündenliste reicht von Insidergeschäften bis zum kommunen Warenshausdiebstahl. Doch dank seiner vielfältigen Beziehungen kam er immer wieder zu neuer gesellschaftlicher Anerkennung. Finanziell sanierte er sich mit dem Verfassen neuer Trivialromane. Die englische Literaturkritik befürchtet, dass er in Zukunft erneut schriftstellerisch tätig wird.
Nach Archer kam Parteikollege Steve Norris in die aussichtsreichste Position, von den Konservativen als offizieller Kandidat nominiert zu werden. Der Ex-Verkehrsminister interpretierte sein früheres Amt jedoch etwas zu wörtlich und leistete sich neben seiner Ehefrau neben- und nacheinander fünf Geliebte. Dies wusste zwar die Öffentlichkeit, zum Verhängnis wurden ihm seine Eskapaden erst, als er mitten im Kampf um die Nomination für den Bürgermeister-Job stand.
Die Mama eines konservativen Unterhausabgeordneten sorgte sich wegen Norris um die Sitten in der Partei ihres Sprösslings. Sie empfahl dem Wahlausschuss, von einer Kandidatur des begehrten Liebhabers abzusehen. Das Mutterherz wurde von den Parteioberen erhört und Norris vorübergehend kaltgestellt. Die Konservativen bauen jetzt die 66-jährige Baroness Miller auf, die sich bisher als Verkäuferin von Beauty-Produkten betätigte.
Falsch ist die Vorstellung, die politische Konkurrenz Labour könnte vom Schlamassel der Konservativen profitieren. Bei Labour streiten sich zwei Kandidaten und eine Kandidatin um die Nominierung: der Alt-Linke Ken Livingstone, Ex-Gesundheitsminister Frank Dobson sowie die Schauspielerin und Oscar-Gewinnerin Glenda Jackson.
Livingstone ist der letzte Bürgermeister der Stadt, er nervte die frühere Permierministerin Thatcher derart, dass sie 1986 kurzerhand sein Amt abschaffte. Der vom «Roten Ken» zum «Kuschel-Ken» mutierte Livingstone versucht sich als einziger politisch zu profilieren und wehrt sich gegen die geplante Privatisierung der U-Bahn. Zudem engagiert er sich für ein Verbot der Treibjagd auf Füchse. Ein Thema, das die Londoner zwar emotional berührt, aber ihren Lebensalltag nicht wirklich prägt. Livingstone ist in erster Linie wegen seiner Exzentrik beliebt: Er ist Amphibienliebhaber und sammelt in seiner Freizeit Salamander. «Kuschel-Ken» steht in den Meinungsumfragen regelmässig an der Spitze sämtlicher Kandidaten.
Trotzdem ist seine Nomination unwahrscheinlich, denn er ist das Feindbild par excellence für Premierminister Tony Blair. Der schickte den farblosen Frank Dobson ins Rennen, einen ehemaligen Gesundheitsminister. Wie die BBC in einem Dokumentarfilm belegte, lässt Blairs Parteimaschinerie nichts unversucht, um Livingstone zu diskreditieren und Dobson zu fördern. Das Repertoire reicht von übler Nachrede bis zur einseitigen Verteilung der Wahlkampfmittel. «Man würde lieber die eigene Tochter Lord Archer anvertrauen als die Stadt London einem solchen Politikerhaufen wie Labour», bemerkte die «Sunday Times» sarkastisch.
Als ob noch mehr Lärm im Laden nötig wäre, trat Malcolm McLaren als unabhängiger Kandidat auf die Bühne. Der Ex-Produzent der Sex Pistols und Ex-Partner der Modedesignerin Vivienne Westwood will ebenfalls Bürgermeister werden. Er propagiert die Drogenfreigabe und die Eröffnung staatlicher Bordelle – vermutlich zur stillen Freude von Geoffrey Archer.
In diesem Gerangel hält sich einzig eine Kandidatin, die Schauspielerin Glenda Jackson, vornehm zurück: «Ich habe eine grosse Vorstellungskraft, aber in meinen wildesten Fantasien hätte ich mir das nicht denken können», kommentiert sie das wilde Treiben.Im kommenden Mai wird gewählt, es bleibt also kaum Zeit für neue Skandale. Oder um es mit den Worten eines Kolumnisten zu sagen: «Die Londoner haben dann die Wahl zwischen den Out-of-control-Freaks und den Freaks, die die Kontrolle verloren haben.» Jackson teilt diese Analyse. Hätte sie die Geschichte dieses Wahlkampfs in einem Filmscript gelesen, wäre es ihr «zu unglaubwürdig» erschienen. Sie hätte es weggeworfen.