Medien, Öffentlichkeit und Politik lassen sich regelmässig durch technische Innovationen blenden
Fasziniert vom Anwendungspotenzial «revolutionärer» Technologien und Dienstleistungen wird seit Jahrzehnten behauptet, Wirtschaft und Gesellschaft würden sich fundamental wandeln. Gegenwärtig ist es das Internet, das die Phantasien beflügelt. Auch die Schweizer Regierung gedenkt, sich den Herausforderungen der «Informationsgesellschaft» zu stellen. Bei der Umsetzung ist darauf zu achten, den «digitalen Graben» in der Bevölkerung nicht weiter aufbrechen zu lassen.
Von Werner A. Meier*
Seit gut 25 Jahren macht die wirtschaftliche und politische Elite darauf aufmerksam, dass wir uns auf dem Weg von der Industriegesellschaft zur Informations-, Kommunikations- oder Wissensgesellschaft befinden. Das Industriezeitalterwird vom Informationszeitalter abgelöst. «Revolutionäre Technologien» bauen die Gesellschaft radikal um. Während in den siebziger Jahren die Computerentwicklung zur «mikroelektronischen Revolution» hochstilisiert wurde, galt in den achtziger Jahren die Telematik als Inbegriff von Modernität. In den neunziger Jahren wurden Anglizismen mit dem «E-» an der Spitze zum Sinnbild des Fortschritts. Man spricht jetzt von E-Cash, E-Banking, E-Commerce, E-Shopping, E-Business, E-Mail, E-Learning, E-Publishing, E-Government, E-Administration, E-Census, E-Voting, E-Switzerland und E-Europe, orientiert sich aber immer noch am gesellschaftlichen Leitbild der siebziger Jahre.
Die Geburt der Informationsgesellschaft
Gesellschaften, die von Informations- und Kommunikationsnetzwerken abhängig sind und einen grossen Teil ihrer Ressourcen in die Informations- und Kommunikationsaktivitäten stecken, werden als Informationsgesellschaften bezeichnet. Die Güterökonomie wird durch dieInformationsökonomie abgelöst. Die neuen strategischen Ressourcen eines Landes oder einer Volkswirtschaft sind Informationstechnologien und deren Anwendungen. Nicht mehr Kapital und Arbeit, sondern das durch Gewinnung, Verarbeitung und Verwertung gesammelte theoretische und anwendbare Wissen wird zum zentralen Produktionsfaktor.
Die Schaffung von «Informationsgesellschaften» ist ein nationalstaatlich und wirtschaftspolitisch ausgerichtetes Projekt, das erstmals Endeder sechziger Jahre in Japan auftauchte und seither von vielen Staaten mit unterschiedlichen Schwerpunkten verfolgt und gefördert wird. In Europa hat die EU in den neunziger Jahren die Führungsrolle zusammen mit wissens- und informationsbasierten Technologie- und Kommunikationsunternehmen übernommen. Alle wollen von den zukünftigen Segnungen profitieren. Der für den Europäischen Rat verfasste «Bangemann- Report 1994» verkündete, die digitale Revolution eröffne der menschlichen Intelligenz riesige neue Kapazitäten und verfüge über das notwendige Potenzial, um die Effizienz unserer Gesellschaft und Wirtschaft zu verbessern sowie den europäischen Zusammenhalt zu stärken. Alle europäischen Regierungen begannen, die Errungenschaften und Vorteile von Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) – diesmal in Form von digitalen Netzwerken – für die nationalen Volkswirtschaften herauszustreichen. Die Beweggründe sind offensichtlich: Die IKT sollen fürglobalisierte Volkswirtschaften zusätzliche Produktivitätsgewinne und Standortvorteile abwerfen sowie die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Länder und Unternehmen verbessern. Für die Mehrzahl der Politiker in Europa steht ausser Zweifel, dass die Entwicklung der digitalen Marktwirtschaft mehr Lebensqualität für die Bürger und Bürgerinnen bringt.
Zugang zum Internet als Grundrecht
Auch wenn die Schweiz sich weniger euphorisch ins Zeug legte und das Wettrennen umStandortvorteile an eine interdepartementale Koordinationsgruppe statt an ein Ministerium für E-Commerce delegierte, so hat der Bundesrat in seiner 1998 verabschiedeten Strategie zur Förderung und Umsetzung der Informationsgesellschaft dennoch zwei ambitionierte Ziele gesetzt:Der «Zugang aller» zum Internet und die «Befähigung aller» in den Netzen sollen der schweizerischen Bevölkerung als Grundrechte anerkannt werden. Vergegenwärtigt man sich, dass die EU noch 1994 die Schaffung der Informationsgesellschaft in Europa ausschliesslich dem Privatsektor und den Marktkräften überlassen wollte, jedoch neuerdings bei der Umsetzung von «E-Europe» 2002 federführend sein will, so stellt sich die Frage, welche Rolle der öffentliche Sektor in den einzelnen Ländern spielen soll.
Der weit verbreitete technologiezentrierte Diskurs besteht darin, neuen Technologien die Fähigkeit zuzuschreiben, einen gesellschaftlichen Paradigmenwechsel auszulösen. Was Bill Gates im Namen der Konzerne ausspricht, zieht konservative wie progressive Politiker gleichermassen in den Bann: «Wir stehen alle vor einer weiteren grossen Reise. Auch diesmal wissen wir nicht genau, wohin sie uns führen wird, aber ich bin sicher, dass diese Revolution das Leben von noch mehr Menschen verändern wird (. . .). Der PC – seine Hardware, die kommerziellen Anwendungen, die Online-Systeme, die Internet-Verbindungen, E-Mail und Spiele – bildet die Grundlage für die nächste Revolution.»
Soziale Risiken kaum bedacht
Analysiert man die öffentliche Debatte der Protagonisten aus Wirtschaft und Politik etwas distanzierter, so zeigen sich folgende Merkmale: Der Gesellschaftswandel von der industriellen zur Informationsgesellschaft wird vor allem durch vielfältige Marketing-Bemühungen der Anbieter neuer Technologien und Dienstleistungen ständig herbeigeredet. Dabei dienen moderne Technologien als Metapher zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung und zur Erhöhung der Akzeptanzfür die Verfolgung unternehmerischer und politischer Interessen. Unternehmerische Chancen werden hervorgehoben, während soziale Risiken heruntergespielt, verniedlicht oder gar nicht thematisiert werden.
Betritt man heute eine Buchhandlung, so findet man Hunderte von Anleitungen zur erfolgreichen Einführung von E-Commerce, während die wachsende «e-inequality» («digital divide») publizistisch kaum in Erscheinung tritt. «E-inequality»bedeutet, dass die neuen Technologien die Gesellschaft stärker fragmentieren und bestimmte gesellschaftliche Gruppen diskriminieren, statt sie zu integrieren. Die Wirtschaft delegiert diese Problemlösung an die Politik und konzentriert sich auf die Zielsetzung, alle solventen Institutionen, Communities und Individuen 24 Stunden am Tag und 7 Tage in der Woche zu vernetzen, um ihnen jahrelang Produkte und Dienstleistungen zu verkaufen.
Unaufhaltsame «Informationsrevolution»?
Dieser politisch und modernisierungstheoretisch konstruierte Gesellschaftsentwurf ist spekulativ, zyklisch, hypertechnologisch und mystifizierend. Spekulativ, weil die Informationsgesellschaft eine Konstruktion darstellt, die wenig aussagekräftige empirische Evidenzen aufweist. Zyklisch, weil im Gefolge der Einführung und Verbreitung neuer Techniken immer wieder angenommen wird, dass dadurch tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen ausgelöst werden. Hypertechnologisch, weil zwei reduktionistische Annahmen diskursiv vorherrschen: der technologische Determinismus und der technologische Imperativ. Der technologische Imperativ nimmt an, dass die «Informationsrevolution» genauso unaufhaltsam und unabänderlich ist wie die industrielle Revolution und keineswegs durch wirtschaftliche Interessen ausgelöst und durch kulturelle Bedingungen und politisches Handeln beeinflusst werden kann. Der technologische Determinismus geht davon aus, dass technologische Durchbrüche oder Fortschritte die Richtung des sozialen Wandels bestimmen und dass diese eine unaufhaltsame Eigengesetzlichkeit und einen Zwang zur Anpassung entwickeln. Mystifizierend, da der Anschein erweckt wird, die Informationstechnik und die Kommunikationsnetze bzw. deren emanzipatorischer Gebrauch seien in der Lage, die macht- und herrschaftsspezifischen Grundlagen der Gesellschaft, die dominierenden Staats- und Wirtschaftsstrukturen umzuwälzen.
Dabei wird verschwiegen, dass sich in der Regel die traditionellen Kapitalinteressen und «Big Players» auch unter veränderten Wertschöpfungsprozessen im digitalen Kapitalismus durchzusetzen verstehen. Denn sie besitzen ausreichend Kapital, unternehmerisches Know-how und die Fähigkeit, Netzwerke für ihre Zwecke zu strukturieren. Im immer noch als chaotisch und anarchisch gefeierten Cyberspace verlieren die «Netizens» ihre Definitionsmacht über Inhalte, Strukturen und Nutzung. Ihre Rolle als Produzent schwindet ständig, während sich die globalen Monopole etablieren.
Der Staat als Förderer von Schlüsseltechnologien darf nicht einseitig die kommerziell-technokratische Sichtweise übernehmen und die Akzeptanz eines Gesellschaftsentwurfs fördern, dessenStrukturen und Regeln nicht demokratisch ausgehandelt wurden. Der Staat hat in erster Linie solche gesellschaftliche Prozesse zu verstärken, die allen Menschen die Möglichkeit eröffnen, ihre Vorstellungen, Wünsche und Bedürfnisse zu verwirklichen.
Die Rolle des Staates
Der Staat als Moderator und Koordinator, als Gestalter von Rahmenbedingungen kann sich nicht damit begnügen, offene Märkte zu schaffen und die Standortvorteile von Technologie- und Medienunternehmen zu verbessern. Vielmehr muss er auch die unterschiedlichen Interessen und sozialen Folgen bei der Implementierung von netzwerkbasierten Technologien, Arbeits- und Organisationsformen für Teile der Gesellschaft öffentlich zur Sprache bringen. Dabei hat er sich von seinen Allmachtsphantasien zu trennen und darf nicht weiterhin so tun, als ob es ihm gelänge, die sich klar abzeichnenden Widersprüche und Interessenkonflikte beim Übergang zur Informationsgesellschaft aufzulösen.
Damit eine Wissensgesellschaft entsteht, in der der Reichtum und die Lebenschancen gleichmässiger verteilt werden, genügt es nicht, den technischen Netzzugang zu sichern, sondern die institutionellen und kulturellen Kontexte sowie die sozialen Zugänge sind stärker zu fokussieren: Unter welchen kontextuellen Bedingungen sind die Bürger und Bürgerinnen in der Lage, mittels Internet Informationen zu generieren und zu erhalten, die ihre berufliche und private Lebensqualität verbessern? Welche sozialen Innovationen sind notwendig, damit der grösste Teil der Bevölkerung auch tatsächlich in den Genuss der Verheissungen kommen kann? Welche Folgen ergeben sich aus der Entkörperlichung und Virtualisierung des Arbeitsalltags? Was passiert mit den vielen Menschen, die mit den informatisierten Strukturen von Wissensgesellschaften nicht zu Rande kommen?
Unerfüllbare Erwartungen
Berücksichtigt der Staat in der Rolle des E-Government-Modell-Anwenders den kulturellen und institutionellen Kontext stärker, würde erseine gegenwärtigen Aktivitäten realistischer betrachten. Was unter E-Government als Pendant zum E-Commerce ins Auge gefasst wird, zielt in erster Linie auf eine Reorganisation und Effizienzsteigerung der öffentlichen Verwaltung, aufeine Rationalisierung der Interaktion von Verwaltung und «Kundschaft», auf die Kommerzialisierung öffentlicher Wissensproduktion und auf denVersuch, Staat und Verwaltung mit einem Modernisierungsschub zu versehen. Diese strategischen Ziele sind einsichtig und mindestens mittelfristig erreichbar.
Untauglich erscheint in diesem Zusammenhang allerdings die Idee, die Modellanwendung als Sinn- und Vorbild für vertrauensbildende Massnahmen im Hinblick auf die drohende Spaltungund Verfestigung in digital kompetente und inkompetente Bürger und Bürgerinnen einzusetzen. Da werden Erwartungen geschürt, die Staat und Verwaltung in zusätzliche Legitimationsprobleme stürzen, weil dadurch weder automatisch das Demokratiepotenzial gesteigert noch für den einfachen Bürger, der ein- bis zweimal pro Jahr eineTransaktion auslösen möchte, ein Mehrwert geschaffen wird. Von der Mobilisierung bildungsferner Schichten ganz zu schweigen. Wenn es Staat und Verwaltung in der Schweiz und in Europa mit dem Slogan «People First» ernst meinen, dann muss die Politik entsprechend handeln.
Wenn es darum geht, eine informierte Gesellschaft zu schaffen und die Demokratisierung vonÖffentlichkeit zu forcieren, in welcher die Bürgerinnen und Bürger die demokratischen Werte weiterentwickeln und Entscheidungsverfahren optimieren können und in welcher die Mitglieder der Zivilgesellschaft relevantes Wissen und Kompetenzen zur Herausbildung kultureller Identitäterlernen, müssen die gegenseitigen Interventionen zwischen soziotechnischen Netzwerken undgesellschaftlichen Kontexten im Vordergrund stehen. Es genügt nicht, gute Voraussetzungen fürE-Commerce und E-Government zu bieten. Gesellschaftspolitisch mindestens so dringlich ist es, nachhaltige Bedingungen für Chancengleichheit beim Netzzugang, für «E-Equity», zu schaffen.