Keine Sechs beim Sex – Aufklärung
Eine neue Studie belegt: Zum Thema Aufklärung schweigen die Schulmeister noch immer. Und viele Jugendliche wissen beim Sex nicht, was sie tun.
Von Bienchen und Blümchen ist heute für einmal nicht die Rede.
Noemi, 15, ruft: «Schnäbeli, Schwanz! Latte!»
Andreas, 16, sagt: «Petting, Poppen, Ficken! Ficken!»
Und Mimoza, 16, meint bloss: «BMW!»
BMW? «Mann, bedeutet doch: Brett mit Warzen! Flache Titten!»
Das nennen Schulinspektoren einen engagierten Unterricht. Die Winterthurer Sekundarklasse ist nicht mehr zu halten: Hoden, Eier, Titten – in einer wahren Schreibeuphorie krakeln die Mädchen und Knaben Sex-Wörter auf Dutzende gelbe Zettel, um sie dann laut vorzulesen. Wörter, die knallen – hier im Klassenzimmer, wo sie eigentlich verboten wären. Doch je lauter sie knallen, desto besser. Die erste Lektion im heutigen Unterricht, für den eigens die Zürcher Sexualpädagogin Esther Elisabeth Schütz angereist ist, heisst: Aufklärung beginnt damit, die Dinge beim Namen zu nennen. Hemmungslos.
Die Sek-Schüler haben ein flottes Mundwerk bewiesen. Doch was ist mit den Lehrerinnen, den Lehrern? Die bekommen rote Ohren, drucksen herum, stottern, verstummen gar, wenn sies den Kindern sagen sollten. Ja, auch heute noch. Obwohl Sexualkunde in den Lehrplänen der Schulen seit Jahren verankert ist – genauso wie Schreiben oder Rechnen –, kneift ein Grossteil der Lehrkräfte. Wohl 90 Prozent aller Schülerinnen und Schüler werden in den Schulen nicht richtig aufgeklärt, nicht «ganzheitlich» auch, schätzt Schütz. Sie ist Leiterin des Institutes für Sexualpädagogik in Uster ZH, und ein Teil ihrer Arbeit besteht darin, das Licht der Sexualaufklärung in die Klassenzimmer zu tragen – als eine Art Feuerwehrfrau für brennende Fragen.
Denn bei der Sexualerziehung haben die Schulen einiges nachzubüffeln. Das belegt eine in diesen Tagen publizierte Studie des Sozial- und Präventivmedizinischen Institutes der Universität Lausanne. Die landesweit abgestützte Untersuchung* stellt fest, dass in der Deutschschweiz «das Konzept Sexualerziehung nicht zwingend existiert». Auf der Primarstufe sei nur in einem Drittel aller Kantone die Abdeckung mit sexualpädagogischen Inhalten «gut» – dies in einem Bildungssystem wohlgemerkt, das sich zu den fortschrittlichsten überhaupt zählt.
Generell gilt für die Deutschschweiz: «Selten nur geben die Schulämter Qualitätsvorgaben oder üben eine Kontrollfunktion aus.» In den Lehrplänen einiger Kantone werden die Themen Schwangerschaftsabbruch, Pornografie oder auch Homosexualität mit keiner Silbe erwähnt – dafür werden die Schüler mit Integralrechnungen oder dem Passé simple traktiert. Die Berner Sexualpädagogin Doris Zbinden von der Stiftung für Gesundheitsförderung meint: «Beim Aufklärungsunterricht ist die Deutschschweiz ein Entwicklungsland.»
Kein Wunder, wenn man sich die Lernbereitschaft der Lehrerschaft vor Augen führt: Zwischen 1997 und 1999 boten zahlreiche Kantone ihren Pädagogen Weiterbildungsseminare in Sexualerziehung an. Doch die Mehrzahl der Kurse, stellt die Studie aus Lausanne fest, musste abgesagt werden. Grund: «Mangelndes Interesse.»
Möglich, dass man sich nun fragen wird: Wozu noch Aufklärung in den Klassenzimmern, wenn den Jugendlichen an jedem Zeitungskiosk Anatomie-Unterricht geboten wird? Wenn auf dem Internet bereits Minderjährige die Produkte der Sex-Industrie bestaunen können? Wenn im TV-Nachmittagsprogramm nacktes Tun Hauptthema ist? Und wenn der Herr Nachbar in der Talkshow bekannt gibt: «Ich bin pervers – und find mich gut.»
Nichts ist gut, meinen die Fachleute. Die Sexualpädagogin Zbinden stellt fest, dass die Teenager «zwar tun, als ob sie alles wissen. Aber wer nachfragt, staunt nur noch.»
Bereits 1998 brachte eine Umfrage unter Bündner Jugendlichen, Mädchen und Knaben im Alter von 16 Jahren, überraschende Wissenslücken zu Tage: 14 Prozent der Jungen waren der Meinung, eine Frau könne nicht schwanger werden, wenn sie beim Akt keinen Orgasmus habe. 9 Prozent der Burschen gaben an, eine Frau, die vergewaltigt worden sei, habe eben allzu aufreizende Kleider getragen. 20 Prozent der befragten Mädchen offenbarten ein mangelhaftes Wissen über den Zusammenhang von Menstruation und Fruchtbarkeit.
Dabei sollten die Kids schon ein bisschen mehr wissen als die Mär vom Klapperstorch. Das erste Mal kommt bestimmt – für rund 60 Prozent der Jugendlichen heute im sechzehnten Lebensjahr. Gerade für diese Einsteiger ins Sexleben wird dabei die angebliche gesellschaftliche Befreiung im Geschlechtlichen oft zum Zwang: «Videos, Sexhefte, Erotiksendungen präsentieren eine normierte Sexualität der Erwachsenen. Die hat mit der Lebenswirklichkeit von Jugendlichen nur wenig zu tun», sagt die Leiterin des Ustermer Sexualpädagogik-Institutes Schütz.
Es gibt keine Kuschelecken mehr, frei von kommerzialisiertem Erwachsenensex, und das mediale Trommelfeuer an erotischen Inhalten ist in vielen Fällen fatal. «Bereits Kinder beginnen die öffentliche Sexualnorm nachzuahmen, es gibt immer mehr Probleme zwischen Mädchen und Buben», beobachtet Schütz. Probleme, die bis hin zu «sexuellen Übergriffen und Vergewaltigung» gehen.
Tatsächlich sehen sich Pädagogen und Behörden immer öfter mit sexueller Gewalt unter Jugendlichen konfrontiert; einige Fälle sind so gravierend, dass sie an die Öffentlichkeit gelangen. Juni 2000: Ein 14-jähriger Schüler aus dem Kanton Solothurn gesteht die Vergewaltigung eines 7-jährigen Mädchens. Januar 2001: Drei Sekundarschüler missbrauchen einen 15-jährigen Klassenkameraden im Skilager. Februar 2001: Sexuelle Übergriffe unter Realschülern im Kanton Sankt Gallen.
Das hat nichts mehr mit Blümchen und Bienchen zu tun. Und auch nichts mit einer verkopften Wissensvermittlung, welche die Prozesse des Geschlechtlichen an den Schwanzlurchen (lat. Cryptobranchidae) exemplifiziert.
Immerhin: Es gibt Pädagogen, die sich der Herausforderung stellen, wie ein neuerer Fall an einer Schule im Kanton Zürich zeigt. Dort zwangen Oberstufenschüler Mädchen aus den unteren Klassen wiederholt zu oralem Sex. Obwohl die Nötigungen nicht auf dem Schulhausareal stattfanden, sondern in einem benachbarten Velounterstand, intervenierten die Lehrer sofort, als sie durch Schülerinnen auf die Vorfälle aufmerksam wurden. «Das Erstaunlichste war: Die Mädchen liessen alles geschehen», sagt eine Lehrerin der betreffenden Schule. «Als sei das normal.»
Normal? In einem eigens wegen der Sex-Attacken initiierten Unterricht wurde den Schülerinnen und Schülern erst mal beigebracht, dass weder stummes Hinhalten noch kaltblütiges Ausnützen zur Sexualität gehört. Die Lehrerschaft bildete sich in Kursen zum Thema sexuelle Gewalt weiter.
Aber auch wenn weder Gewalt noch Zwang, sondern pure Lust und Hingabe im Spiel sind, gibt es Fragen zuhauf, die deutsch und deutlich eine Antwort verdienen. Was die scheinbar abgebrühten Kinder nämlich wirklich wissen wollen: Stimmt es, dass ich beim ersten Mal nicht schwanger werden kann? Von wo an messe ich die Länge meines Penis? Ist der Eichelkäse unter meiner Vorhaut giftig? Kann ich mich unten wieder zunähen lassen, wenn ich mit einem Mann Sex hatte? Die Winterthurer Sekschüler haben die Fragen, die sie bedrängen, an die Wandtafel geschrieben. Warum gibt es Schwule? Warum Lesben? Wo wollen Männer berührt werden? Wo Frauen?
Sex ist komplex und das Wissen der Jugendlichen darüber Stückwerk: gut gemeinte Ratschläge von den Eltern, die neuesten Magerkeitsideale aus den Jugendzeitschriften, Anschauungsmaterial aus Sex-Videos und die Risiken und Nebenwirkungen des Ganzen aus Sicht der Aids-Prävention. Was aus diesem Info-Mix in den ohnehin hormonell verwirrten Köpfen entsteht, ist ein mitunter «gefährliches Halbwissen», wie sich die Berner Sexualpädagogin Doris Zbinden ausdrückt. Doch genauer nachfragen mag keiner. Denn nachfragen heisst, sich bei den anderen Jungen und Mädchen zu blamieren.
Wohin eine totale Abstinenz bei der Sexkunde führen kann, zeigt das Beispiel USA. In den meisten amerikanischen Bundesstaaten wurde die schulische Sexualkunde von privaten Unterrichtsprojekten abgelöst. Diese lehren nicht mehr Verhütungspraktiken, sondern predigen sexuelle Enthaltsamkeit. Mit dem Resultat, dass Kinder ungewollt Kinder bekommen: Die Vereinigten Staaten weisen bei Mädchen unter 19 Jahren die höchste Schwangerschafts- und Abtreibungsrate aller Industriestaaten auf.
In Deutschland stellt die Forschung bei den Teenagern eine immer früher einsetzende Geschlechtsreife fest. Gleichzeitig steigt neuerdings die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche in dieser Altersgruppe. Der deutsche Sexualforscher Norbert Kluge mahnte deshalb diesen Sommer an: «Kinder müssen früher aufgeklärt werden. Am besten schon im Kindergarten.»
In der Schweiz ist die Anzahl abgebrochener Teenager-Schwangerschaften im internationalen Vergleich niedrig: grob geschätzt rund 1200 im Jahr. Die Zahl der Fälle ist indessen trotz der flächendeckenden HIV-Prävention und der damit verbundenen Propagierung des Kondoms in den letzten zehn Jahren nicht zurückgegangen. Dafür hat der Anteil der ausländischen jungen Frauen, die eine Schwangerschaft abbrechen, markant zugenommen; er beträgt heute in einzelnen Kantonen bis zu 60 Prozent. «Gerade deshalb müsste es zwingend sein, dass die Schule alle Mädchen über die Verfügbarkeit der Pille danach informiert», sagt Sexualpädagogin Zbinden.
In den hiesigen Unterrichtsstuben sitzen nicht mehr bloss Heidi und Peter, sondern auch Somgül und Dragan – die multikulturelle Gesellschaft macht die Vermittlung von Sex-Know-how zusätzlich zur Herausforderung. 11 von 19 Kindern der Winterthurer Sekundarschulklasse, die so fleissig gelbe Zettel mit Sex-Wörtern beschrieben hat, stammen aus dem Ausland. In ihrem Schulzimmer treffen sich vier Glaubensrichtungen: Islam, Buddhismus, Katholizismus, Protestantismus.
Mimoza kam aus dem Kosovo in die Schweiz. «Schminken darf ich mich mittlerweile. Aber über Sex kann ich mit meinen Eltern nicht sprechen. Das ist bei Muslimen wohl so.»
Esther kommt aus Winterthur und ist katholisch. Sie hat einen Freund. Miteinander schlafen ist für sie kein Thema. «Petting ist okay. Aber richtigen Sex will ich nicht vor der Ehe.»
Andreas, geboren in Deutschland, kann das nicht verstehen: «Meine Freundin übernachtet in meinem Bett. Wir haben Sex. Und auch ihre Eltern sind sehr offen.»
Noemi ist Tibeterin und Buddhistin. «Geht es nach meinen Eltern, darf ich nur eine Beziehung haben. Mit dem Mann nämlich, den ich auch heiraten werde.»
Im Spannungsfeld der verschiedenen religiösen Weltsichten kann bereits der Gebrauch eines Tampons zur Glaubensfrage werden, die Pille danach oder gar die Abtreibungspille zur ideologischen Bombe. Das beweist derzeit allein die binnenschweizerische Debatte um die Fristenregelung. «Da braucht es Mut, als Pädagoge zur eigenen Position zu stehen», sagt der Winterthurer Sekundarlehrer Andreas Eichenberger, «und viel Toleranz, um fremde Meinungen zu verstehen.»
Tatsächlich verstummt so manche Lehrperson beim Thema Sex, weil sie Konflikte mit Eltern, den Schulbehörden oder auch Kirchenverbänden fürchtet. Aufklärung, das Reden über Sexualität, ist in einer Institution wie der Schule letztlich immer noch politisch.
Dabei ist die Vermittlung von Sex-Know-how selbstverständlich nicht einzig Sache der Lehrer. Aber heute wie gestern fühlen sich viele Eltern von den Fragen ihrer Kinder überfordert. Und genau wie früher bitten viele Kinder ihre Eltern zuletzt um Auskunft, wenn Lust und Triebe das Thema sind. Die Pädagogik nennt dieses innerfamiliäre Setting auch «Taubstummen-Situation»: Der eine kann nicht hören, der andere nicht reden – das kommt in den besten Familien vor, und auch mittlerweile zu Erziehungsberechtigten gereiften 68ern fehlen plötzlich die Worte, wenns nicht mehr um die gesellschaftlichen Verhältnisse geht, sondern um diejenigen ihrer Kinder. Deshalb muss die Schule an die Sexfront: «Es geht schliesslich um einen der wichtigsten Aspekte unseres Lebens», sagt die Berner Sexualpädagogin Zbinden.
Zumindest dies scheint mittlerweile Commonsense zu sein, und schüchtern kündigt sich in der Deutschschweiz – gut dreissig Jahre nach der so genannten sexuellen Revolution – eine Art sexualpädagogischer Aufbruch an: Seit letztem Jahr bietet die Luzerner Hochschule für soziale Arbeit einen sexualpädagogischen Weiterbildungskurs für Lehrkräfte und Erzieher an. Das 1998 gegründete Institut für Sexualpädagogik in Uster führt solche Kurse ebenfalls durch.
Und es gibt sie tatsächlich, die unerschrockenen Lehrmeister, die trotz aller Schwierigkeiten gewillt sind, Sexualaufklärung in den Schulzimmern zu praktizieren. Beispielsweise acht Kantonsschul-Lehrer aus Oerlikon, die für einen Tag Weiterbildung nach Uster reisten, ans Institut für Sexualpädagogik.
In den Seminarräumen hängen recht realistische Bilder an den Wänden: ein Knabe, der seinem Penis betastet, ein Mädchen, das seine Scheide betrachtet. Es sind Illustrationen aus dem von Esther Elisabeth Schütz und ihrem Koautor Theo Kimmich verfassten Aufklärungswerk «Sexualität und Liebe». Das Buch wird Ende dieser Woche in Zürich mit dem Kinder- und Jugendpreis des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann ausgezeichnet. Weil nämlich, lautet die Begründung, «Sexualpädagogik ein brennendes Thema auf allen Schulstufen» und eine «Herausforderung für Lehrpersonen» sei.
Das kann man sagen. Die Lehrerfortbildung der Oerlikoner Biologen fand hinter verschlossenen Türen statt, Besucher unerwünscht. Und mit Ausnahme eines Jungpädagogen mochten sie sich zum Thema Sexualpädagogik in der Presse nicht namentlich zitieren lassen. Ein Rückzug in die Anonymität soll «Freiräume schaffen».
So viel war trotzdem zu erfahren: In Sachen Sexualpädagogik werden Pauker wieder zu Schülern. Auch die Oerlikoner Kantonsschullehrer, ausgewachsene Männer zwischen 30 und 50 Jahren, schrieben als Lockerungsübung gelbe Zettelchen mit Wörtern voll. Um sie dann lauthals in den Raum zu rufen. Oder sich gegenseitig ins Ohr zu flüstern: «Schamlippe» – «Prostitution» – «Pornografie».