Entführt und Vergewaltigt
In China blüht der Handel mit Frauen. Dutzende werden täglich Zur Prostitution gezwungen. Die Polizei schaut meist weg – und kassiert.
Der Traum des Lebens sollte in der Stadt beginnen. «Alles war gross und hell erleuchtet», erinnert sich Wang Yanhong an ihren ersten Besuch in Chengdu. Zusammen mit ihrer Cousine und einer Freundin hatte sich die 17-Jährige in einen Bus gesetzt. Acht Stunden dauerte die Reise auf der staubigen Landstrasse von ihrem Dorf in die Stadt. Yanhong fühlte sich in einer anderen Welt: Hier waren die Strassen breit und sauber, in den Einkaufspassagen drängelten sich gut gekleidete Menschen, aus den Restaurants roch es verführerisch nach Chili.
Eine Woche lang suchen die drei Frauen erfolglos Arbeit. Dann plötzlich scheint auch ihnen das Glück zu winken: «Sucht ihr einen Job?», spricht sie ein Mann im feinen Anzug an. Er brauche Kellnerinnen für ein Lokal, der Lohn sei 300 Yuan im Monat – umgerechnet 52 Franken. Begeistert stimmen die jungen Frauen zu. Ein Kleinbus fährt vor, in dem fünf andere Mädchen sitzen. Als die drei Freundinnen einsteigen, wissen sie nicht, dass ihre Körper bereits verkauft sind.
Eigentlich darf diese Geschichte nicht erzählt werden. Bis heute, zwölf Monate nach der Entführung, ist es chinesischen Zeitungen verboten, über die Tragödie zu schreiben, die Yanhong und die anderen Mädchen nach der Busfahrt erlebten.
Es ist eine Geschichte, wie sie in diesen Tagen in China fast täglich passiert.
Sie handelt von Frauen, die gegen ihren Willen in die Prostitution verkauft werden. Die aus Geldgier misshandelt, geprügelt und vergewaltigt werden. Die wie Wang Yanhong für den Rest ihres Lebens eine Wunde in der Seele tragen – und deren Peiniger bis heute ungestraft geblieben sind. Denn die Entführer von Yanhong steckten mit der Polizei unter einer Decke.
Der Bus ist losgefahren, doch es dauert einige Zeit, bis Yanhong klar wird, dass sie in eine Falle geraten ist. Der Mann im feinen Anzug, der als Arbeitsvermittler aufgetreten war, hat sich mit einer Ausrede verdrückt. Als der Bus plötzlich in eine nächtliche Landstrasse einbiegt, wissen die Frauen, dass sie entführt werden.
«Wir haben geschrien», erinnert sich Yanhong. Ihre Cousine, fünf Jahre älter und verheiratet, fleht um Verschonung, sie sei schwanger. Die Männer im Bus schnauzen sie barsch an. «Halt das Maul. Wir haben für euch bezahlt!» In der Verzweiflung versucht eines der Mädchen, aus dem Fenster zu klettern. Mit Gewalt reissen die Männer sie zurück, schlagen ihr ins Gesicht. «Wer versucht zu fliehen, dem brechen wir die Beine», drohen sie.
Kurz vor Sonnenaufgang erreicht der Bus das Bordell «Hong Dou» («Rote Bohne»), ein mit schweren Eisengittern befestigtes zweistöckiges Haus im Landkreis Renshou. Die Puffmutter, die sich als Dritte Schwester (San Jie) vorstellt, redet Klartext: 500 Yuan (87 Franken) habe sie für jedes Mädchen bezahlt. Dafür müssten sie jetzt arbeiten und «Gäste empfangen». Hoffnung auf Flucht solle sich niemand machen. «Wir haben für jede von euch Schutzgeld bei der Polizei gezahlt», droht die Dritte Schwester. Vor dem Haus hören die Mädchen das Bellen von Wachhunden.
Yanhong macht eine Pause in ihrer Erzählung, es fällt ihr schwer, weiterzureden. In dem kargen Bauernhaus in ihrem Heimatdorf Luocheng giesst der Vater heisses Wasser in Tassen, stellt sie auf den groben Holztisch. Am Abend nach der Busfahrt sei «es passiert», erzählt Yanhong mit leiser Stimme. Zwei Lastwagenfahrer betreten das Bordell, einen davon soll Yanhong unterhalten. Sie versucht zu reden, zu erklären: Jungfrau sei sie noch, erst 17 Jahre alt. Der Lastwagenfahrer hört ihr Flehen nicht, er habe «ja schliesslich für sie bezahlt». Barsch drückt er Yanhong auf das Bett. Dreimal wird sie in dieser Nacht vergewaltigt.
Die nächsten Tage erlebt sie im Schock, wie durch einen Nebel. Unter Anleitung der Dritten Schwester werden die Mädchen ins Dorf zum Coiffeur gebracht, müssen aufreizende Kleider anziehen. Als eines der Mädchen versucht, um Hilfe zu schreien, lachen die Dorfbewohner. Um ihnen zu zeigen, wie «man Männer unterhält», werden die Mädchen gezwungen, Porno-Videos anzusehen. In den kommenden Tagen wird Yanhong Dutzende Male missbraucht, auch von den Zuhältern. Jede Nacht werden neue Kunden auf ihr Zimmer geschickt. Irgendwann, erzählt sie, habe ihr die Kraft gefehlt, sich zu wehren.
«Ich lag einfach nur noch da.»
Es sind die Schatten einer lange überwunden geglaubten Vergangenheit, die China einholen. Jahrtausende galten chinesische Frauen als Menschen zweiter Klasse. Prostitution und Frauenhandel waren Alltag im klassischen China. Um sie ans Haus zu fesseln, brach man ihre Füsse und zurrte sie mit Bändern zusammen. Frauen durften keine Schulen und Universitäten besuchen, ihr einziger Zweck war, Kinder zu gebären und den Männern zu dienen.
Erst unter dem Sozialismus verbesserte sich ihre Situation.«Frauen tragen die Hälfte des Himmels», versprach Mao Zedong. Und tatsächlich war seine Politik revolutionär: 1950, ein Jahr nach Gründung der Volksrepublik, verkündete die KP ein neues Ehegesetz. Erstmals durften Chinas Frauen selbst ihren Ehemann wählen. Prostitution war für die Kommunisten bourgeoise Ausbeutung. 1949 wurden alle 224 Bordelle in Peking geschlossen. 1964 verkündete die Regierung der Welt, dass Prostitution «in ganz China abgeschafft» sei.
Das Blatt hat sich gewendet. Seit der Einführung der Marktwirtschaft 1979 sind auch Frauen wieder käufliche Ware. Keine Stadt und kein Dorf, in dem heute nicht leicht bekleidete Mädchen ihre Körper vermarkten. Oft sind Bordelle als Coiffeurläden oder Tanzbars getarnt, in manchen Provinzen bieten Dirnen ihre Dienste auch offen an Tankstellen an. Zwischen 800 000 und 2,5 Millionen Prostituierte gibt es in China. Die meisten arbeiten als San-Pei-Mädchen – als «dreifache Begleiterinnen». Für Geld leisten sie Männern beim Trinken, Karaoke-Singen und Tanzen Gesellschaft. Sex gibt es gegen Aufpreis.
Die Mädchen kommen meist vom Land – immer öfter gegen ihren Willen. Offiziellen Zahlen zufolge wurden im vergangenen Jahr mehr als 6000 Frauen von der Polizei aus der Entführung befreit. Weil die Regierung Informationen über Frauenhandel unterdrückt, dürfte die Dunkelziffer «ein Vielfaches höher sein», sagt Sophia Woodman von der New-Yorker Menschenrechts-Gruppe Human Rights in China. An die Öffentlichkeit dringen nur Einzelfälle: Im Juli befreite die Polizei 50 entführte Fabrikarbeiterinnen, die landesweit als Prostituierte verkauft werden sollten. In Schanghai flog im September ein Ring von Frauenhändlern auf, der 20 Mädchen an Bordelle in Henan verkauft hatte.
Das jüngste Opfer war gerade 13 Jahre alt.
Viele der entführten Frauen werden zur Zwangsheirat an ledige Bauern verkauft. Einem offiziellen chinesischen Bericht zufolge wurden seit 1990 insgesamt 64 000 Frauen aus solchen Zwangsehen befreit. In China herrscht Frauenmangel. Mit ein Grund dafür ist die Ein-Kind-Politik: Weil Chinesen traditionell männlichen Nachwuchs bevorzugen, werden Mädchen oft abgetrieben. Im Weltdurchschnitt werden pro 100 neu geborener Mädchen 106 Jungen gezeugt. In China ist das Verhältnis dank moderner Ultraschall-Untersuchung bereits 100 zu 120. In manchen unterentwickelten Landstrichen sind Frauen so rar, dass Junggesellen ihre künftigen Ehefrauen gegen Bares von Menschenhändlern kaufen.
«Frauenhandel ist ein grosses Geschäft», sagt Huang Qi, der in Chengdu eine Internet-Seite für entführte oder vermisste Menschen betreibt. Huang führt einen einsamen Kampf. Die Polizei unternehme kaum etwas gegen den Menschenhandel, klagt er. «Die halten lieber selbst die Hand auf und verlangen Schutzgelder», sagt Huang. Seit einem Jahr hilft er Angehörigen, indem er Fotos von Vermissten auf seiner Internet-Seite abbildet. Täglich erhält er Anrufe von Familien, deren Töchter ver-schwunden seien. «Nur ganz wenige tauchen wieder auf, meist durch Glück», sagt Huang.
Auch Wang Yanhong, das Mädchen aus der Provinz, das sein Glück in der Stadt suchte, rettete nur der Zufall.
Nach einigen Tagen in dem Bordell wurde ihre schwangere Cousine schwer krank, die Entführer liessen sie ziehen. Die Bordell-Chefin fühlte sich offenbar sicher: Die lokale Sicherheitspolizei im Kreis Renshou deckte ihr Geschäft, einige der Beamten waren selbst Stammgäste. Elf Tage nach der Entführung gelang es der Cousine, sich bei der Familie von Yanhong zu melden. Vorbei war der Alptraum damit nicht. Als der Vater bei der Polizei anrief, wurde er rüde abgewimmelt. Bei der Provinzpolizei schickte man ihn weg mit dem Satz: «Woher sollen wir wissen, ob deine Geschichte stimmt?»
In der Not entschloss sich der Vater nach Chengdu zu fahren. Dort bestätigte sich sein Verdacht. Die Polizisten wollten ihre Kollegen auf dem Land schützen, immer wieder verzögerten sie die Befreiung. «Es war schrecklich», erinnert sich Vater Wang. «Meine Tochter war in diesem Bordell, und niemand wollte ihr helfen.» Erst zwei Tage später, als es dem Vater gelang, einen Reporter der Lokalzeitung einzuschalten, schritt die Polizei widerwillig ein. Eine Nacht mussten die sechs entführten Mädchen im Gefängnis der Polizei verbringen, nur durch Gitterstäbe von ihren Peinigern getrennt.
Ärztliche Betreuung oder Hilfe gab es nicht. «Ihr seid doch selbst schuld», raunzte ein Beamter sie an.
Ein Jahr später lebt Yanhong wieder mit ihren Eltern. Von der Polizei hat die Familie nie etwas gehört. Ob die Entführer und die lokalen Polizisten zur Verantwortung gezogen wurden? Sie wissen es nicht. Briefe an die Provinzregierung blieben unbeantwortet. Als der Vater bei einem Gericht Anzeige erstatten wollte, schickte man ihn weg: «Sei froh, dass du deine Tochter wieder hast.»