Der letzte der Kalten Krieger

Kalten

Der Sturz von Deutschlands Exkanzler Helmut Kohl in den Affärensumpf ist das finale Kapitel im Niedergang von Europas Konservativen.
Helmut Kohl weiss, wo er noch Freunde hat. Drei Tage nach seinem Bruch mit der CDU-Führung gönnte er sich wie in alten Zeiten ein Bad in der Menge. 4000 Gäste der Bremer CDU empfingen den Einheitskanzler am vergangenen Freitag wie einen Popstar.

Bei seinem Auftritt am Neujahrsempfang des Kohl-treuen CDU-Landesverbandes machte Kohl klar, er werde nicht sein Ehrenwort brechen und die Namen der Parteispender nennen. Im Gegenteil werde er für seine beschädigte Ehre kämpfen und «die Proportionen wieder herstellen, die in den letzten Tagen völlig aus den Fugen geraten sind».

Die CDU-Führung begriff die Botschaft: Der Alte gibt sich nicht geschlagen und will am Ende über all die Kleingeister triumphieren, die ihn gedemütigt haben. Denn der Exkanzler verlor vor zehn Tagen nicht nur den Ehrenvorsitz, die Partei gab ihm deutlich zu verstehen, dass sie den Abgeordneten Kohl auch im Parlament nicht mehr sehen will. Das lässt sich ein Helmut Kohl nicht bieten: Er baut auf den Zulauf der verstörten CDU-Basis, die den Vatermord der CDU-Führung nicht verkraftet.

Mobilisiert Kohl seine Truppen weiter, wird der Machtkampf zwischen «Aufklärern» und «Kohlianern» eskalieren. Unabhängig davon steht aber jetzt schon fest, dass die Tage der grössten konservativen Volkspartei Europas in ihrer bisherigen Form gezählt sind. Die CDU könnte sich wie die französische Rechte in konkurrierende Parteien aufspalten, wie die englischen Tories auf unabsehbare Zeit ein politisches Schattendasein fristen oder sogar, wie ihre ehemalige italienische Schwesterpartei Democrazia cristiana, von der Bildfläche verschwinden.

Ausgelöst durch den Spenden-Skandal prallen in der CDU zwei Welten aufeinander: «Kohlianer» und «Aufklärer» stehen nicht nur für zwei verschiedene Führungsstile, sondern auch für zwei diametral entgegengesetzte Konzepte von Politik. Die «Aufklärer» verlangen Wahrheit und Rechtsstaatlichkeit, wäh-rend die «Kohlianer» jenes selbstherrliche Staatsverständnis verteidigen, das Konservative der Kohl-Generation in ganz Westeuropa während des Kalten Krieges entwickelt haben.

Während vierzig Jahren verstanden Konservative den Kampf gegen die kommunistische Gefahr als Hauptaufgabe bürgerlicher Volksparteien. Im Nachkriegsfrankreich gründete Charles de Gaulle seine nationalistische Sammelbewegung als Gegenkraft zur damals starken kommunistischen Partei, in Italien ging es der Democrazia cristiana im Kern darum, die Beteiligung der Kommunisten an der Regierung zu verhindern. In Westdeutschland entwickelte die CDU das Modell der sozialen Marktwirtschaft, mit dem sie den eigenen und den DDR-Bürgern die Überlegenheit des Kapitalismus über den Sozialismus beweisen wollte.

Zum Staatsverständnis der konservativen Kalten Krieger gehörte die Überzeugung, dass der Kampf gegen den Kommunismus den laschen Umgang mit Gesetzen rechtfertigt, weshalb Kohl und Konsorten auch heute noch kein Unrechtsbewusstsein entwickeln können. Seine schwarzen Kassen der Neunzigerjahre begründete der Einheitskanzler mit der Not seiner Partei in der ehemaligen DDR – die CDU habe das Geld für den Wahlkampf gegen die postkommunistische PDS gebraucht.

Diese Doppelmoral bricht der CDU das Genick, weshalb für die neue CDU-Führung mit dem hessischen Spendenskandal der Bruch mit der Kohl-Truppe unvermeidlich wurde. Denn in Hessen war es ausgerechnet der stramm rechtskonservative ehemalige CDU-Innenminister Manfred Kanther, der das Geld in der Schweiz versteckte und den Rückfluss nach Deutschland mit der unsäglichen Legende toter Juden verschleiern liess, die aus Liebe zu Deutschland der Partei ihr Vermögen vermacht hätten.

Mit dem moralischen Zusammenbruch der CDU verlieren Europas Konservative ihren letzten Hoffnungsträger. Zehn Jahre nach dem Fall der Mauer müssen sie erkennen, dass sie zu den Verlierern des Kalten Krieges gehören.

Paradebeispiel ist der Untergang der Democrazia cristiana (DC) in Italien, die vor sieben Jahren als erste der grossen konservativen Volksparteien im Sumpf ihrer korrupten Vergangenheit erstickte. Keine ihrer europäischen Schwester-
parteien hatte sich allerdings so ungeniert als Staatspartei aufgeführt wie die DC.

Im Namen ihres antikommunistischen Kampfauftrages nahmen sich die italienischen Christdemokraten den Staat als Beute, verteilten nach Belieben jahrzehntelang Geld, Jobs und Privilegien. Das italienische Bürgertum empörte sich, verhalf der DC aber doch immer wieder zur Macht, weil den Bürgern die korrupten Katholiken immer noch lieber waren als die verhassten Kommunisten.

Auch Englands Tories und Frankreichs Gaullisten hatten nach dem Fall der Mauer ihre Korruptionsskandale, doch im Vergleich zur DC und zur deutschen CDU handelt es sich dabei um Peanuts. In Grossbritannien verloren die Konservativen vor drei Jahren die Macht, weil sie nach 18-jähriger Herrschaft verbraucht waren und weil die Briten ihren harten neoliberalen Kurs nicht mehr ertragen konnten. In Frankreich scheiterte die Rechte an neoliberalen Reformplänen des konservativen Premierministers Alain Juppé, gegen die sich Millionen von Franzosen wehrten.

Allen grossen konservativen Parteien gemein sind grundlegende Fehleinschätzungen nach dem Fall der Mauer: Sie verwechselten die Implosion des sozialistischen Staatensystems mit einem Freibrief für eine ungezügelte liberale Wirtschafts- und Sozialpolitik. Nach anfänglichen Erfolgen kam die kalte Dusche im Laufe der Neunzigerjahre, als die Wähler in fast allen EU-Ländern zu den Sozialdemokraten überliefen, die eine behutsamere Reformpolitik versprachen. Seither müssen die Konservativen aus der Opposition verbittert zusehen, wie linke Regierungen all jene Reformen durchsetzen, für deren blosse Ankündigung die Rechte abgewählt worden ist. So paukte die deutsche rotgrüne Regierung ein rigoroses Sparpaket durch, während Frankreichs sozialistischer Ministerpräsident Lionel Jospin mittlerweile mehr Staatsbetriebe privatisiert hat als alle konservativen Vorgänger zusammen.

In keinem Land Europas könnte allerdings der Zusammenbruch der konservativen Volkspartei so fatale Folgen haben wie in Deutschland. Denn die historische Leistung der CDU bestand nach 1945 darin, das in der Weimarer Republik zersplitterte bürgerliche Lager in einer grossen Partei zusammenzufügen. Der CDU gelang es, das nach Diktatur und Krieg heimatlose konservative Lager einzubinden und die Entstehung einer neuen rechtsextremen Partei zu verhindern.

Zerbricht die CDU am Spendenskandal, wird die Rechte heimatlos. Diese Perspektive lehrt die Deutschen von links bis rechts das Gruseln. Scheitere die CDU mit ihrer Gratwanderung zwischen «Aufklärern» und «Kohlianern», befürchtet der konservative Historiker Michael Stürmer die Rückkehr der «Weimarer Verhältnisse»: Die Frage eines neuen «Führers» stelle sich dann nicht heute oder morgen, aber vielleicht in fünf Jahren: «Wenn erst mal die Konjunktur kritischer wird und der Sozialstaat in die vorhersehbare Überlastung hineintreibt – was ist dann?»

Ein ähnliches Szenario entwirft die liberale «Süddeutsche Zeitung»: Zerfalle die CDU in mehrere rivalisierende bürgerliche Parteien, seien die Spaltprodukte anfällig für «neue Nationalismen und autoritäre Versuchungen»: «Noch gibt es keinen deutschen Haider, aber es kann sich schnell einer finden – möglicherweise auch durch die Metamorphose eines schon etablierten Politikers.»

Der CDU ist diese Gefahr bewusst, weshalb führende Exponenten vor Eskalationen im Umgang mit Kohl warnten. Je mehr die CDU-Basis den Exkanzler an Auftritten bejubelt, desto massiver drohen «Kohlianer» wie Bremens CDU-Chef Bernd Neumann mit der Sezession: Der CDU-Bundesvorstand hat sich bereits dem Druck gebeugt, indem er bekannt gab, er werde auf gerichtliche Schritte gegen den ehemaligen Ehrenvorsitzenden Kohl verzichten.

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