Aufmerksamkeit, bitte
Für einen Sitz im Parlament ist den Kandidaten im russischen Wahlkampf jedes Mittel recht. Die Wähler lässt das kalt.
Knöchelhoch liegt der Schlamm in den Läden am unteren Ende des Moskauer Lenin-Prospekts, an dem sich die nach Stalins Plänen solide gemauerten Wohnburgen im Zuckerbäckerstil für die Parteibonzen und die Koryphäen der Wissenschaft erheben. Es wirkt, als sei der Schlamm extra in Lastwagen hierher gekarrt worden, vom anderen Ende des Lenin-Prospekts, vom Stadtrand, wo in den Siebzigerjahren allerhand Forschungsinstitute eilig und aus Beton auf unbefestigtem Ödland hochgezogen worden waren.
Wahlplakate zieren die gesamte Länge des Lenin-Prospekts, doch nie hängen sie lange. Flugblätter sind schon nach wenigen Stunden wieder von den Bäumen verschwunden. Auch solidere Reklameträger bleiben von diesem Kleinkrieg nicht verschont. Zum Beispiel die gläsernen Schaukästen an den Bushaltestellen, in denen ein farbiges Porträt von Michail Sadornow prangt. Der Ex-Finanzminister kandidiert in diesem Wahlbezirk für die liberale Oppositionspartei Jabloko. Jeweils im Morgengrauen kleben Spezialbrigaden der kommunistischen Partei das Konterfei ihres Kandidaten Alexander Kuwajew auf Sadornows hohe Stirn. Drei Stunden später schlagen Sadornows Getreue zurück: Einer schabt mit einem Messer den Kommunisten ab, der andere poliert mit einem Tuch die Leimspuren von Sadornows Glatze.
Am Sonntag wählt Russland ein neues Parlament. 2300 Männer und Frauen von 27 Parteien bewerben sich um die 450 Sitze. Dabei haben sich die Kandidaten in den letzten Wochen mit mehr Schlamm beworfen, als dieser Tage auf den matschigen Strassen Moskaus liegt.
Das Lieblingsvehikel zur Verbreitung von so genanntem Kompromat, kompromittierenden Geschichten über die Kandidaten der anderen Parteien, war das Fernsehen. Sowohl die Partei Vaterland – Ganz Russland, die vom Moskauer Bürgermeister Luschkow und Expremier Primakow angeführt wir, – als auch die neu geschaffene Partei Einheit, die von Premier Putin und dem Jelzin-Clan unterstützt wird, benutzten ihre Kanäle für die tägliche Beschimpfung des Gegners.
Der schmutzige Krieg in den Medien hat in der Bevölkerung widersprüchliche Spuren hinterlassen. 70 Prozent der Wahlberechtigten wollen am Sonntag wählen gehen. Obwohl 80 Prozent überzeugt sind, dass die Stimmenauszählung nicht fair sein wird.
An der Sitzverteilung im neuen Parlament (Duma) wird sich nicht nur ablesen lassen, wer bei den für Juni 2000 zu erwartenden Präsidentenwahlen die grössten Chancen auf die Nachfolge von Boris Jelzin hat. Laut Verfassung kann die Duma in den ersten sechs Monaten nicht aufgelöst werden. Falls eine tragfähige Mehrheit zu Stande kommt, könnte das Parlament die Verfassung ändern und damit seine heute schwache Position entscheidend stärken.
Besonders wichtig sind die Wahlen auch für den 29-jährigen Wladimir Kaurow. In ungefütterten Halbschuhen stapft er durch den vom Salz aufgeweichten Schnee den Lenin-Prospekt entlang. Er trägt abgewetzte Jeans, eine adrette, dunkelblaue Schülerjacke und eine blaue Mütze. Niemand würde vermuten, dass Kaurow ein Bomsch ist. Bomsch ist die Abkürzung für die russischen Worte: ohne Wohnsitz. Seinen Pass hat das Militär nach seiner Dienstzeit einbehalten. Folglich ist er nirgendwo gemeldet und gilt als Landstreicher.
Dem Bild des filzbärtigen Gossenbewohners entsprechen in Moskau die wenigsten seiner Schicksalsgenossen. Wie er sind sie meist Opfer der mittelalterlichen Meldevorschriften des Landes, die in der Hauptstadt Moskau besonders streng ausfallen. Kaurow hat mit drei Kumpels zusammen ein Zimmer bei einer älteren Dame in einer Nebenstrasse des Lenin-Prospekts gemietet. Sie ernähren sich gemeinsam von umgerechnet drei Franken am Tag. Selten steht etwas anderes auf dem Tisch als Hirsebrei mit Zwiebeln und Sonnenblumenöl.
«Wenn man in Lumpen geht, drückt das auf die Beliebtheitskurve», sagt Kaurow. Hier im Wahlbezirk 201 mit seinen 480 000 gemeldeten Einwohnern fühlt er sich nämlich als Kandidat. Im russischen Wahlgesetz ist nur die Rede davon, dass die Kandidaten Bürger des Landes sein müssen. Vom Besitz eines Passes oder Meldepapieren steht nichts geschrieben. Deshalb klagte er, nachdem die Bezirkswahlkommission seine Kandidatur als Unabhängiger abgelehnt hatte. Inzwischen liegt sein Fall beim Obersten Gerichtshof der Russischen Föderation. Falls er eines Tages Recht bekäme, könnte Kaurow das Ergebnis im Wahlbezirk 201 nachträglich annullieren lassen. «Solche wie mich gibt es in Moskau 35 000», schätzt er bescheiden. Wahrscheinlicher ist, dass es eine Million sind.
Der selbst ernannte Repräsentant der Bomsch-Klasse staunt noch immer, wie freundlich man ihn in der Wahlkommission behandelt hat. «Und Sie sind nicht beleidigt, wenn ich Sie verklage?», fragte er die Vorsitzende, und die antwortete: «Ach was, das kommt hier nicht mehr drauf an.»
Der Wahlbezirk 201 ist der Distrikt mit den buntesten Vögeln. Unter den zwölf registrierten Kandidaten befindet sich Russlands bekannteste Feministin, Marija «Mascha» Arbatowa, 42, von Beruf Dramatikerin und Fernsehmoderatorin. Dann Darja «Dascha» Aslamowa, 30, Sexsternchen und Exjournalistin, die ihren Ruhm ihrem zweibändigen Werk «Memoiren eines Schmuddelmädchens» verdankt, in dem sie ihre erotischen Abenteuer mit zahlreichen Prominenten aus Politik und Wirtschaft beschreibt. Das Mass voll macht Wladimir Semago, Kandidat einer linken Splittergruppe namens Geistiges Erbe, der noch bis vor kurzem Mitglied der kommunistischen Partei und Besitzer eines Spielkasinos war. Das Hauptanliegen des kommunistischen Millionärs ist, Moskau vor fremden Unternehmern zu schützen – kein gutes Vorzeichen in den Augen des Bomsch-Vertreters Kaurow.
Krass prallen hier im Wahlkreis 201 die Weltanschauungen aufeinander: Einerseits trauern die älteren Führungskräfte der diversen Hochschulen und Forschungseinrichtungen ihren einstigen Privilegien und dem Kommunismus nach, anderseits bildeten viele hiesige Wähler dank ihrem wissenschaftlichen, also nicht ideologischen Denktraining von Anfang an eine Plattform für die Reformbewegung im Lande.
Im Auditorium der Pädagogischen Hochschule, gehüllt in ein eher dekoratives als wärmendes Pelzmäntelchen, gibt sich «Dascha» Aslamowa den Anschein, auf die an diesem Institut vorwiegend weiblichen studentischen Wählerinnen zu warten. Allzu viel Mühe hat sie sich nicht gemacht, um ihren Auftritt zu affichieren: ein Anschlag am schwarzen Brett, der natürlich gleich wieder abgerissen wurde. Deshalb ist auch niemand gekommen – ausser Bomsch Kaurow. Bei Aslamowa rennt er mit seinem Anliegen, das restriktive Meldegesetz abzuschaffen, offene Türen ein. Sechs Jahre lang lebte Aslamowa als weiblicher Bomsch im Dormitorium der Moskauer Staatlichen Universität. «Mit der Energie eines jungen Raubtiers», erinnert sie sich, habe sie sich damals in der akademischen Umgebung einen legalen Status in der Hauptstadt zu erkämpfen versucht. Dies ist ihr gelungen, wenn ihre Tätigkeit herkömmlicherweise auf diesem Wege auch nicht unter den Begriff wissenschaftliche Arbeit fällt.
Heute bezeichnet sich Aslamowa als «vorbildliche Ehefrau und Mutter». Ihr Wahlkampf, versichert sie, richte sich gegen die Willkür der Sicherheitsorgane. Und ihre Losung heisst: «Den Bauern Grund und Boden, Wasser den Matrosen und Milch den Joghurt-Bakterien!» Schnell wird klar, dass Aslamowas Konkurrentin Marija Arbatowa Recht hat: Russlands Cicciolina geht es nicht darum, eine Wahl zu gewinnen, sie will nur wieder kräftig ins Gerede kommen.
Arbatowa, verheiratet und Mutter erwachsener Zwillingssöhne, hat einen gewaltigen Vorteil in diesem Rennen: ihr Bekanntheitsgrad. Jahrelang trat sie allwöchentlich als Advocatus Diaboli in der Talkshow «Ich selbst» auf, in der Frauen ihre Probleme präsentierten. Greinenden Kandidatinnen warf sie gewöhnlich «unreifes Verhalten» vor, dabei schlachtete sie schlagfertig sämtliche heiligen Kühe der unausgesprochenen Sowjetmoral, vor allem die Bewahrung der Familie um jeden Preis. Ihre wichtigste Lektion, die sie bei den Zuschauerinnen, aber auch bei vielen Männern beliebt gemacht hat: Es gibt nicht nur eine, sondern mehrere Weisen, richtig und gut zu leben.
Ihre Wahlkampfveranstaltungen sind gut besucht. Andächtig lauscht ein proppenvoller Hörsaal der Pädagogischen Hochschule dem TV-Star: «Wenn ihr wollt, dass nicht mehr 15 000 Frauen im Jahr in unserem Land an häuslicher Gewalt sterben, wenn ihr im Fall einer Scheidung von eurem Exmann mehr Alimente erhalten wollt als ein Pack Pampers und wenn ihr nicht zusehen wollt, wie eure Söhne in der Armee ermordet werden, dann wählt mich», ruft sie dem mehrheitlich weiblichen Publikum zu.
Ihre Mitbewerberin Aslamowa, erklärt Arbatowa, sei von bestimmten Oligarchen ins Rennen geschickt worden, um sie zu diskreditieren. Inzwischen führt sie zahlreiche Prozesse gegen Zeitungen, die von den beiden «Dämchen mit den Problemen weiblicher Nachtfalter»
sprechen. Schon häufig stand sie vor verschlossenen Auditorien. Telefonische Morddrohungen gegen sie und ihre Söhne waren zu Beginn ihrer Kampagne an der Tagesordnung, ihr Wahlkampfleiter wurde spitalreif geschlagen. «Ich hätte nicht gedacht, dass diese Wahlen so kriminell sind», sagt Arbatowa. «Deshalb bin ich froh, dass ich mich der Union der rechten Kräfte angeschlossen habe und nicht als Unabhängige kandidiere. Wenn nicht Expremier Sergei Kirijenko hinter mir stünde, hätte man mich schon längst umgebracht.»
Sie behauptet, Druck auf Marija Arbatowa habe über Mittelsmänner auch Sadornow, der Kandidat der anderen grossen demokratischen Partei, Jabloko, auszuüben versucht. Man habe sie auf verschiedene Weise überreden wollen, ihre Kandidatur im Interesse der Demokratie zurückzuziehen, falls Sadornow und sie bei den Umfragen Kopf an Kopf liegen sollten.
Zahlreich versammelt sich das Volk auch bei den Veranstaltungen von Sadornow. Vom Wirtschaftsexperten wollen die Wähler vor allem ökonomische Fragen beantwortet haben: «Wie wird sich der Rubelkurs entwickeln? Wie beurteilen Sie unsere Aussenhandelsbilanz?» Der Frage nach seiner Verantwortung als damaliger Finanzminister für die Krise im August 1998 weicht Sadornow geschickt aus. Es hätte wohl nicht so kommen müssen, wenn Russland nicht in den Strudel der Asienkrise geraten wäre. Sein Bekenntnis zu einer grenzenlosen Freizügigkeit innerhalb Russlands wird mit Applaus bedacht.
Der verhinderte Kandidat Kaurow ist in vielen Punkten mit Sadornow einverstanden. Trotzdem wird er, falls man ihn überhaupt an die Urne lässt, nicht Sadornow wählen. Und auch nicht Arbatowa, obwohl er sich zwischendurch zum Feminismus bekennt. Kaurow will seine Stimme einem Kandidaten geben, der sich seit Jahren vorwiegend für die Interessen der Autofahrer einsetzt, doch ohne Chance ist. «Der hat als Jurist schon viele absurde Verkehrsgesetze mit Erfolg gerichtlich angefochten», begründet er seinen Entscheid, «den Politikern der grossen Worte ziehen bei uns immer mehr Leute Interessenvertreter vor, die bewiesen haben, dass sei etwas bewirken können, und sei es nur in einem kleinen Bereich.»
Die Aussicht auf eine Kommunisten-Mehrheit macht Kaurow keine Angst. Er glaubt, seine Anliegen auch vor dem Parlament durchsetzen zu können: «Wenn die neue Duma zusammentritt, werde ich mit meinen Schicksalsgenossen vor ihren Toren demonstrieren.»